Erinnern Sie sich noch?

Konstruktives Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt

Helmut Kohl wird Bundeskanzler

1. Oktober 1982

Es war, als stünde mit einem mal das ganze Land still, als hielte die gesamte Umwelt den Atem an. Seit fünf Jahren hatte ich das nicht mehr gefühlt, und damals hatte ich es noch nicht so recht verstanden. Eine Spannung lag in der Luft, eine politische Spannung, die schon eine Weile ihresgleichen suchte. Niemals zuvor war mir so klar, daß Deutschland am Scheideweg stand, daß sich etwas anbahnte, das, so glaubte ich, kaum einer wirklich wollte.

Begonnen hatte alles am 17. September 1982, als gegen Mittag ein sichtlich geschockter Regierungssprecher Klaus Bölling vor die Presse trat und das Ende des dreizehnjährigen sozial-liberalen Experiments bekanntgab. Sein Chef, Bundeskanzler Helmut Schmidt, hatte die Minister der kleineren Koalitionspartei F. D. P. entlassen. Grund waren Streitigkeiten um den wirtschaftlichen Kurs der Regierung und ein Milliardenloch im Haushalt. Schmidt beabsichtige, so Bölling, mit einer Minderheitsregierung weiterzumachen.

Dieses Ereignis war für mich nicht nur aufregend, sondern auch niederschmetternd. Von Kind an hatte ich immer gehört, daß uns eine CDU-Regierung wirklich nichts bringen könne. Dem "kleinen Mann" würde es schlechter gehen, sagten sie, die Einfluß auf meine Meinung hatten. Ich aber war inzwischen 13 Jahre alt, und ich beschloß, mir eine eigene Meinung zu bilden. Dazu lieh ich mir aus unserer Schulbücherei ein Grundgesetz aus, und zum ersten mal in meinem Leben las ich ein Verfassungswerk. Was war ein "konstruktives Mißtrauensvotum"? Die CDU-Opposition im Bundestag würde versuchen, mit genügend Stimmen von der F. D. P., den bisherigen Bundeskanzler Helmut Schmidt durch CDU-Parteichef Helmut Kohl abzulösen. Ein verfassungsrechtlich normaler Vorgang, das betonten die Kommentatoren im Radio immer wieder. Doch in Teilen der Bevölkerung kursierte der Begriff "Königsmord". Ich kann mich noch gut erinnern, wie aufgebracht alle waren, wie man den FDP-Vorsitzenden Genscher einen "meineidigen Halunken" nannte, der doch geschworen habe, den Nutzen des Volkes zu mehren, und der sich jetzt mit der Partei der Reichen, der Bonzen einließ.

Wie man hört stamme ich aus einem sozialdemokratisch geprägten Milieu. Hier wurde geschimpft, aber die Hintergründe wurden nicht beleuchtet. Kaum einer wußte, warum es zwischen den Koalitionären zum Streit gekommen war. Nur die 1,8 Millionen Arbeitslosen konnten ein Lied davon singen. Es ging um die unterschiedlichen Ideen, wie man die immer stärker werdende Arbeitslosigkeit bekämpfen könne. Für damalige Verhältnisse war die Quote, die heute ja weit überschritten ist, eine Rekordmarke. Außerdem hatte der Staat eine Menge Schulden gemacht, und die Zinszahlungen, nur die Zinszahlungen wohlbemerkt, verschlangen einen beträchtlichen Teil des Haushaltes.

Trotzdem bescheinigen viele Menschen dem aufrechten sozialdemokratischen Kanzler aus Hamburg, daß er sein bestes gegeben habe. Nicht einmal die Gegner versagten ihm später diese ehrenvolle Aussage. Und doch nutzten sie die Wirtschaftskrise aus, um eine Regierungskrise auszulösen und für sich zu entscheiden. Das machtpolitische Kalkül Kohls und Genschers war es denn eigentlich auch, was so viele Menschen gegen sie einnahm.

11 Tage lang verhandelten CDU-CSU und F. D. P. über die Bildung einer neuen Regierung. In dieser Zeit habe ich sehnlich gehofft, die Verhandlungen mögen scheitern. Ich hoffte, die SPD mit ihrer für die unteren Schichten der Bevölkerung gemachten Politik, würde sich durchsetzen. Doch am 28. September 1982 stellten "Die Fraktionen von CDU und CSU und die Fraktion der F. D. P." den Antrag, "Herrn Bundeskanzler Schmidt seines Amtes zu entheben und Herrn Doktor Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu wählen.". Mit Spannung verfolgte ich nun, wie sich die F. D. P. über diese Frage zu spalten begann. Auch jetzt hoffe ich noch, denn im Grundgesetz hatte ich gelesen, daß jeder Abgeordnete nur seinem Gewissen verpflichtet sei. Von Fraktionszwang hörte ich damals nichts, oder ich achtete nicht darauf. Er steht ja auch nicht im Grundgesetz.

Das Gefühl der unerträglichen Spannung verstärkte sich noch, als der 1. Oktober anbrach. In den vergangenen Tagen schon war die Atemlosigkeit einer verzweifelten Nostalgie und Melancholie gewichen. Meine Eltern haten oft erzählt, wie sie und ihre Familie in den fünziger Jahren noch teilweise gehungert haben, weil sie nur Arbeiter waren und vom Wirtschaftswunder so gut wie nichts mitbekamen. Auch ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, als meine Eltern uns Kindern die Wurst überließen und selbst nur Margarine aßen, zu Beginn der siebziger Jahre, wenn die Auftragslage im alten solinger Messerhandwerk mal wieder schlecht waren und vor allem die litten, die wie Heimarbeiter bezahlt wurden. Daß wir uns dann doch aufgerappelt hatten, daß wir ein gut laufendes Auto, genug zu essen, einen Fernseher, ein Telefon und ein winziges Häuschen in Holland hatten, wo ich mich sehr wohl fühlte, all das habe ich damals der Regierung Schmidt zugeschrieben, oder zumindest dem Umstand, daß wir nicht von der CDU regiert wurden. Ich trauerte bereits melancholisch den vergangenen Jahren hinterher, als an diesem 1. Oktober 1982 der Schulunterricht begann.

Die dramatische Debatte im Bundestag habe ich natürlich nicht mitbekommen. Aber unsere Klassenlehrerin, selbst Mitglied der CDU, kam mit ernster Miene herein und erläuterte uns das Instrument des Mißtrauensvotums, erklärte uns, daß es sich um einen demokratischen Vorgang handle, der nach den Erfahrungen entstanden sei, die wir mit dem Untergang der weimarer Republik und der Machtergreifung der Nazis gemacht hätten. Sie beantwortete bereitwillig Fragen auch von Schülern und Schülerinnen, die sich sonst nicht für Politik interessierten. Das Ergebnis erwarteten wir mit Spannung und - zumindest was mich betrifft - wenig Hoffnung. Und selbst unsere Klassenlehrerin, die sich doch eigentlich hätte freuen müssen, war ernst, gespannt und mit dem Vorgehen der Partei, der sie anhing, wohl nicht vollkommen einverstanden.

Das Ergebnis der Abstimmung über den Mißtrauensantrag bekam ich dan wieder zu hause vor dem Fernseher mit. Ich war gerade angekommen, als um 15.20 Uhr Bundestagspräsident Stücklen vor die Mikrofone trat und sagte: "Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt:
Mit ja haben gestimmt 256 Abgeordnete..." Schon brandete lang anhaltender Beifall auf und Helmut Schmidt reichte Helmut Kohl als erster die Hand. ...

In den folgenden Wochen drängte die SPD-Fraktion den Altkanzler, bei den nächsten Wahlen wieder anzutreten, doch Schmidt lehnte ab. Hätte er dies nicht getan, so hätte er möglicherweise die Wahl gewinnen können, so aber gewann Helmut Kohl in den folgenden Jahren eine Wahl nach der anderen und blieb insgesamt 16 Jahre im Amt. Für mich war an diesem Oktobertag eine politische Welt zusammengebrochen, ich hatte Angst vor der Zukunft. Bis März 1983, bis zu den nächsten Bundestagswahlen, hoffte ich noch, das Blatt würde sich noch einmal wenden, doch das geschah nicht. Obwohl die Arbeitslosenzahlen stiegen, Helmut Kohl in jedes Fetnäpfchen trat, obwohl sein Wahlspruch "den Gürtel enger schnallen" nur für die sozial Schwachen galt, während die großen Unternehmen nach und nach wieder Milliardengewinne einheimsten, die sie dann, anstatt sie in neue Arbeitsplätze zu investieren, ins Ausland brachten, und obwohl die Zahl derer in Deutschland, die in relativer Armut lebten, auf knapp 10 Prozent der Bevölkerung stieg, blieb Helmut Kohl an der Macht, nicht zuletzt wegen der Wiedervereinigung. Doch diese und die mit ihr verbundenen enttäuschten Hoffnungen dürften auch maßgeblich dazu beigetragen haben, daß es 1998 wieder einen Wechsel gab.

Der 1. Oktober 1982 bedeutete für mein Leben ene Zäsur. Ich legte das Grundgesetz nicht wieder aus der Hand, entdeckte meine Vorliebe für Verfassungen, ihre theoretischen Grundlagen und ihre Ideen. Und ich war unzufrieden mit der Politik, mit vielen Entscheidungen der Regierung Kohl, je mehr ich darüber erfuhr und je mehr Zusammenhänge ich als Heranwachsender begriff. Doch das Gefühl von Stillstand, von spannungsvoller Erwartung, von knisternd-träger Beklemmung, die andeutet, daß man am Scheideweg steht, habe ich sechzehn Jahre lang nicht mehr empfunden. Erst als ich für meine Freunde am 20. September 1998 eine Wahlbetrachtung schrieb, empfand ich es wieder. Auf jeden Fall wurde mein konkretes politisches Interesse durch den Regierungswechsel seinerzeit geweckt, ich bildete meine eigene Meinung und versuchte und versuche, politische Zeitdokumente zu sammeln. Es war ein Prägendes Ereignis für mich und viele andere, so denke ich, die sich heute daran erinnern, mit welchen Versprechungen Helmut Kohl damals Kanzler wurde. Und er hat nie aufgehört, leere Versprechungen um des Machterhalts Willen zu machen.

© 2000, Jens Bertrams


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