Erinnern Sie sich noch?

Deutschland, einig Vaterland

Deutsche Einheitsfeiern in Berlin

Dienstag 2. und Mittwoch 3. Oktober 1990

Es war wie in alten Zeiten, als wir, der Leistungskurs Gemeinschaftskunde der Jahrgangsstufe 13 an der Carl-Strehl-Schule in Marburg, am 2. Oktober 1990 mit der Fluglinie Pan-Am nach Berlin flogen. Wir nutzten einen für die Alliierten frei gehaltenen Luftkorridor über dem Territorium der DDR, der bis zu diesem Tag nur in Ausnahmefällen von deutschen Fluglinien genutzt werden durfte. Es schien auch an diesem Tag noch zu funktionieren, das alte ost-west-System, in dem wir aufgewachsen waren. Doch als wir in Berlin ankamen, war alles anders. Menschen aus allen Teilen de Welt drängten sich auf dem Flughafen, das einzig wirklich wichtige Thema war die bevorstehende Einheit Deutschlands.

Dabei hatte es während der letzten Monate immer wieder politische Auseinandersetzungen gegeben. Zwar konnte die Zustimmung der Sowjetunion unter großen Mühen erkauft werden, doch in letzter Sekunde schossen auch noch Verbündete quer, noch in der Nacht vor der Unterzeichnung des Vertrages über die internationalen Belange im Bezug auf die Einheit Deutschlands in Moskau mußte heftigst verhandelt werden. Vom deutschen Einigungsvertrag muß man gar nicht sprechen. Der kam wirklich erst in letzter Sekunde zustande, und bis zur Abstimmung in der Volkskammer der DDR war nicht klar, ob er überhaupt in der ausgehandelten Form gültig werden sollte. Es waren dramatische Tage damals, und ich habe die Sitzungen der beiden Parlamente mit großer Spannung und großem Interesse verfolgt.

Auch an diesem 2. Oktober 1990 war in meiner Stimmung nicht alles gold, was glänzte. Schon fragte ich mich, wie man der großen Arbeitslosigkeit in der ehemaligen DDR Herr werden wollte. Das war und blieb das herausragendste Problem, und ich glaubte nicht an die Worte Helmut Kohls, daß es in wenigen Jahren "blühende Landschaften" im Osten Deutschlands geben werde. Wir waren nach Berlin gekommen, um an der Einheit teilzuhaben, um zu Feiern, aber auch, um die Stimmung zu beobachten und zu analysieren, um unsere Nasen in den Wind zu strecken.

In einer kleinen türkischen Gaststätte nahe unserem Hotel befragte ich unseren Kursleiter über seine Meinung zur deutschen Einheit. Er war ein Linker, ein Mann, von dem so mancher Konservative behauptet hätte, er wolle die Einheit nicht. "Wer die Teilung Deutschlands am eigenen Leibe erfahren hat", sagte er, "de freu sich über die Einheit." Also zogen wir mit Hammer und Fäustel los, um unseren Teil an der deutschen Einheit zu vollenden, indem wir ein Stück Mauerstein heraushackten. Jedes Splitterchen wurde von uns mit Jubel begrüßt. Ansonsten beschlichen mich da zwischen zwei Mauern doch sehr seltsame Gefühle. Ich dachte an die Menschen, die von hier geflohen waren. Auf der einen Seite eine Absperrung von zwei Metern höhe, auf der anderen Seite eine Mauer, die noch um einige Zentimeter höher war, mit einer abgerundeten Mauerkrone, breit und kaum überwindbar. Wir standen mittendrin, auf dem Trampelpfad, den patrouillierende Grenztruppen offenbar benutzt hatten. Und wer hier zwischen den Mauern gestelt wurde, hatte mit Sicherheit keine Chance. Wir standen im Niemandsland an der Demarkationslinie zweier Blöcke. Und noch, so versuchte ich mir bewußt zu machen, waren es zwei Staaten in zwei Blöcken. Bis sich das änderte, sollten noch einige Stunden vergehen.

Als wir über die Friedrichstraße gingen, mit der U-Bahn zum ersten mal in die DDR eingereist, völlig unspektakulär und ohne jede Paßkontrolle, da hörten wir eine Sirene, die plötzlich näherkam, auf- und abschwellend, langgezogen und unaufhörlich wimmernd, nicht unser bekanntes tatütata. Fast ehrfürchtig blieben wir stehen. "Das ist ein ostberliner Polizeiauto", sagte unser Kursleiter, "wir werden es wohl nie wieder hören." Und gleich darauf sahen wir, daß er recht hatte. Gerade war das sozialistische Polizeifahrzeug an uns vorbeigerauscht, als wir zehn westberliner Polizeiautos entdeckten, die hintereinander am Straßenrand standen, mitten in Ostberlin. Der "Anschluß" war also schon vollzogen?

Wir stürzten uns in Festtagsgetümmel unter den Linden, zwischen Brandenburger Tor und Marx-Engels-Platz. Wir feierten zunächst auf der Ostseite der Stadt, um dann mit dem historischen Gang durchs Brandenburger Tor, die Öffnung der Grenze zwischen Ost und West nachvollziehen zu können.

Auf der Feiermeile waren überall Stände aufgebaut. Unzählige Menschen und unzählige Fernsehteams tummelten sich auf der Straße unter den Linden. Wir gingen vorbei an der alten Sowjetbotschaft, aber auch an vielen Würstchenbuden. Ausgelassen ar die Stimmung. Und als einige von uns was essen wollten, da begegneten uns an einer Bude zwei junge Herren, die in der Uniform der bald vergessenen Volkspolizei sich ebenfalls eine Pause gönnten. Wir kamen ins Gespräch. Es handelte sich um Polizisten in der ausbildung, die aber heute zur Unterstützung der Kollegen eingesetzt wurden. "Wie hat sich die Änderung des Rechtssystems auf Ihre Arbeit ausgewirkt", fragte ich. "Naja, die ganzen politischen Straftaten sind weggefallen, und wir mußten ein neues System pauken." "Wann haben Sie mit dem Bundesrecht angefangen?" "Im Februar ungefähr", antwortete mir der Volkspolizist. Ich war sehr erstaunt. Im Februar war noch lange nicht klar, daß die Einheit kommen würde, zumindest nicht, daß sie so schnell kommen würde. "Erwarten Sie heute abend auch Ausschreitungen, und von welcher Seite?" wurden unsere Gesprächspartner von unserem Kursleiter gefragt. Aber darüber konnten sie nichts sagen. Radikale beider Seiten könnten beteiligt sein, meinten sie. Ich sprach die beiden als ehemalige Volkspolizisten an, doch sie widersprachen. "Bis heute Nacht um null Uhr sind wir Volkspolizisten." "Aber warum haben wir dann schon so viele westberliner Polizeiautos gesehen im Ostteil der Stadt?" fragte ich zurück. Da erklärten sie mir, daß aus organisatorischen Gründen gemäß einer Vereinbarung die Polizeihoheit seit dem 1. Oktober bereits im Westen liege.

Es war ein interessantes Gespräch mit Vertretern eines Staates, der bald nicht mehr existieren würde. Überhaupt dachte ich viel darüber nach, was es für Menschen, die ihr ganzes Leben in einem bestimmten Land verbracht hatten, bedeuten würde, wenn dieser Staat plötzlich, von einer Sekunde auf die Andere, aus der Geschichte und von der Landkarte verschwindet. Es war kaum vorstellbar. Und leider gab es auch kaum Zeit, darüber zu debattieren oder sich auszutauschen, denn an der nächsten Bude sprach uns wieder jemand an, der uns fragte, wie wir uns an diesem Tag fühlten. Wir versuchten, wahrheitsgetreu darauf zu antworten. Ich fühlte mich gut, begrüßte die deutsche Einheit, wünschte mir nur, sie würde mit etwas mehr Weitsicht vor allen im Sozial- und Wirtschaftsbereich durchgeführt. Der Mann erzählte, daß dies auch für ihn ein besonderer Tag sei, er sei Berater im Amt des Ministerpräsidenten der DDR gewesen, und es sei schon etwas ganz besonderes gewesen, wie heute nachmittag die Beamten ihre Schreibtische abgeschlossen und ihre Arbeit offiziell erledigt hätten, daß ab Übermorgen ein neuer Amtsleiter die Außenstelle des Bundeskanzleramtes in Berlin übernehme, die bis heute noch das Amnt des Ministerpräsidenten der DDR gewesen war. Ich fragte ihn, ob die Staatsorgane der DDR noch faktisch bis mitternacht handlungsfähig seien. Er bejate dies. "Auch wenn jetzt keiner mehr arbeitet, aber wenn es nötig wäre, wären wir handlungsfähig." Nach den fragen, wie man sich so eine Überleitung in einen anderen Staat vorstellen müsse, was er mit "sehr prosaisch" beantwortete, sprachen wir auch noch über die ehemaligen Blockparteien und ihr Vermögen. Er behauptete, daß es keiner Partei gelingen würde, altes Vermögen, das sie auf unrechtmäßige Weise erworben habe, zu retten und in die neue Bundesrepublik mit hinüberzunehmen. Er sollte sich irren. Der PDS und der CDU gelang es.

Daß mein Freund Thorsten von einem Radioteam angesprochen und nach seiner Meinung zur Einheit befragt wurde, bekam ich nur halb mit. Aus Lautsprechern, die überall aufgestellt waren, hörte man die Musik von der Veranstaltung im Schauspielhaus, wo die DDR ihren letzten Staatsakt gab. Lothar De Maizierre verabschiedete den Staat, den er repräsentierte mit den Worten, daß man von morgan an nur noch in einem Staat mit einer Verfassung zusammenleben werde, in Frieden und Freiheit. "Und wir freuen uns darauf."

Natürlich wollten wir dabei sein bei dem wirklich historischen Augenblick, als ein Staat zu existieren aufhörte und die rechtliche Einheit Deutschlands vollendet wurde. Natürlich hofften wir, viele interessante und spannende Dinge zu erleben und mitzubekommen. Wir wollten dabei sein, wenn um Mitternacht die Deutschlandfahne gehißt wurde vor dem Reichstag. Also machten wir uns abends gegen viertelnach Elf wieder auf den Weg. Noch einmal wollten wir die Grenze von Ost nach West überqueren, umd dann zu wissen, daß es sie nicht mehr gab. Wenn die Grenze zwischen den Blöcken endgültig verschwand, wollten wir nahe dabei sein, ein Augenblick, den nicht jeder miterleben kann. Und wir waren in Hochstimmung. Die Nacht war hereingebrochen, und als wir uns erneut unter den Linden befanden, war die Straße voller Menschen, und die ersten Feuerwerkskörper flogen uns um die Ohren. Um schneler voranzukommen schlug unser Kursleie eine Abkürzung vor über einen parallel laufenden Fußweg. Leider funktionierte der Trick nicht, und wir landeten im absoluten Getümmel, irgendwo auf der Ostseite des Brandenburger Tores. Ich hatte zwar eine Uhr dabei, doch sie war in meiner Umhängetasche, genau wie mein kleiner Kassettenrekorder, und weil es so eng war, kam ich nicht mehr an die sachen heran. Irgendwann im Getümmel riß ein Riemen meiner Tasche, und ich begann in all dem trunkenen Taumel Furcht zu empfinden, wir könnten zerquetscht werden.

Gegen zehn vor zwölf dann stieg die große DDR-Fahne, die auf dem Brandenburger Tor geweht hatte, in die Luft, von Luftballons davongetragen. Das erste Symbol des Arbeiter- und Bauernstaates war verschwunden. Ich erinnerte mich an die Kerze, die jemand unter den Linden gegen neun Uhr mit den Worten verkauft hatte: "Honeckers Staat besteht noch so lange, wie diese Kerze brennt." Ein seltsames Gefühl, genau zu wissen, daß die als ewig und zementiert empfundene Zweiteilung nur noch die Dauer einer kleinen Kerze hatte. Und die Werbung verfehlte ihre Wirkung nicht, denn es gab viele, die eine solche, gerade angezündete Kerze kauften.

Jetzt aber, wenige Minuten vor mitternacht, hatten wir das Brandenburger Tor erreicht. Zwei Ströme trefen sich hier am Nadelör der Ost-West-Verbindung der Stadt, und wir waren mittendrin. Wir wurden im Tor gegen die Seitenwand gepreßt, mein Kopf schlug gegen die Wand, als betrunkene Mitbürger Feuerwerkskörper im Torbogen zündeten und jeder weiter wollte. Ausgelassene Besoffene warfen mit Dosen und schütteten Bier und Wein aus, wir fürchteten, zerquetscht zu werden.

Ganz kurz, als wir das Tor glücklich auf der anderen Seite wieder verließen, hörten wir aus einem Lautsprecher in der Nähe Fanfarenklänge. Wie ich heute weiß, war das ganz kurz vor Zwölf, als ein Fanfarenchor die letzten Minuten mit erhebender Musik füllte. Wir waren so sehr im Getümmel, daß wir nicht mehr bis zum Reichstag vordringen konten. Eine andere Gruppe unseres Kurses hatte es aber rechtzeitig geschafft und schnitt mit, was sie erlebte, weswegen ich noch Tondokumente von diesen Augenblicken habe.

Wir konnten nicht sehen, wie rund 100 Meter von uns entfernt, am Hauptportal des Reichstages, die Fahne gehißt wurde, wir bekamen nichts mit von den Worten, die Bundespräsident Von Weizsäcker aus der Präambel des Grundgesetzes zitierte, eine Rede Kohls gab es in dieser Nacht nicht, und wir bekamen erst mit, daß Deutschland nun vereint war, als ein professionelles Feuerwerk in verschiedenen Teilen der Stadt abgebrannt wurde, und ein gut sichtbarer Strahl von der Ostseite, von der technischen Universität oder der Humbold-Universität aus, bis zur Westseite, zum Reichstagsgebäude hin, gespoannt wurde. Wir standen da und genossen das Hörerlebnis von tausend betrunkenen Feierern, die die Einheit Deutschlands laut und lästig vor sich hingröhlten. Zu diesem Zeitpunkt war mir das alles herzlich egal. Ich stand neben einem ziternden Kursleiter, der immer wieder versuchte, uns davor zu bewahren, tot getrampelt zu werden. Eine solch drangvolle Enge, einen solchen Massenauflauf von Millionen, habe ich nie zuvor und nie wieder erlebt. Während des Feuerwerks ging es sogar, aber als dann Zeit war, abzumarschieren, drängten alle in die Richtung, wo man vermutete, daß die Polizei das Absperrgitter zum Tiergarten öffnen würde. Immer mehr Menschen drängten uns an den Rand, Feuerwerkskörper und Sektkorken flogen uns um die Ohren, und dann kamen einige besonnene Norddeutsche Kerls, die sich um unsere kleine Gruppe herum aufbauten und zur Besonnenheit mahnten. Ich habe nie so sehr um mein Leben gefürchtet, wie in diesem Moment.

Dann, plötzlich und unerwartet, riß die Polizei das Absperrgitter ein. Die Menge, bislang auf einer kleinen Fläche zusammengedrängt, wollte sich ausbreiten und raste los, auch die Hamburger konnten sie jetzt nicht mehr stoppen. Wir rannten um unser Leben. Wenn wir den Käfig erst einmal verlassen hatten, würde es einfacher sein, denn der Tiergarten war eine große Fläche, die praktisch leer war. Wir kamen an das Absperrgitter, und für eine Sekunde blieb mein Schuh darin hängen, es lag auf dem Boden und wir wurden von der Menge hinübergetrieben. Keiner konnte stoppen. Für die halbe Sekunde, die ich benötigte, freizukommen, war mir völlig klar, daß ich jetzt sterben würde. Es war ein grausames, panisches und schreckliches Gefühl, das mich inerlich erstarren ließ. Ich habe geschrien in diesem Moment, daß weiß ich noch von meiner Aufnahme von damals. Im Fernsehen, so habe ich später erfahren, sah man keine Bilder dieser Szenen, es hieß, alles wäre ruhig, nirgendwo sei eine Panik oder Drängelei zu bemerken.

Im Tiergarten angelangt gönnten wir uns erst einmal ene Pause. Anstatt wie die anderen zur nächsten U-Bahn-Station zu hechten, liefen wir erst mal die Straße des 17. Juni bis zur Siegessäule entlang. Wir hatten genug von den Einheitsfeiern und hatten den historischen Moment nur auf Umwegen miterlebt. Als wir nach mehr als einer Stunde zur U-Bahn gingen, war die leer, bis auf Antje Volmer, die einige Sitze von uns entfernt saß. "Wenn sie so weit fährt wie wir, werde ich sie auf ein Bier einladen", sagte unser Kursleiter, doch leider stieg sie eine Station vor uns aus, sodaß aus unserem Interview mit ihr nichts mehr wurde.

Wir schliefen kaum in dieser Nacht. Die ehemals verfeindeten Staaten in Deutschland gehörten nun einem einzigen Staat an, waren wieder vereint. Aber daran dachten wir kaum, bis wir endlich in einen recht kurzen Schlaf fanden, sondern eher versuchten wir den Schrecken zu vertreiben, der uns in dieser Nacht erwischt hatte. So kam es, daß wir am nächsten Tag bei Lichte sozusagen noch einmal die Strecke der vergangenen Nacht abgehen mußten, die Strecke, auf der sich in der letzten Nacht eine historische Feier vollzogen hatte, die Feier, währenddessen der Kalte Krieg in Deutschland endgültig und unwiderruflich sein Ende gefunden hatte. Nichts war mehr so wie früher, obwohl wir das im Westen nicht so sehr bemerkten wie unsere Landsleute im Osten Deutschlands. Diesmal endlich kosteten wir in aller Ruhe aus, daß das Tor nun in der Mitte Deutschlands lag, nicht mehr an einer undurchlässigen Grenze. unser Gang durch das brandenburger Tor hatte endlich diesen Symbolcharakter, den er in der letzten Nacht hatte haben sollen. Und endlich kam es auch bei uns an und wir fühlten, daß sich etwas ganz besonderes ereignet hatte. Die Frage war nun, wie man mit dem neu errungenen kostbaren Gut der Einheit umgehen würde. Westliche, Kohlsche Arroganz bestimmte den Umgang mit der ehemaligen DDR. Noch zum zehnten Jahrestag der Maueröffnung wurde niemand der handelnden Personen dieser Zeit eingeladen, nur Joachim Gaug, der kaum eine Rolle gespielt hatte in der DDR-Opposition. Westliche Arroganz bestimmte das Vorgehen. Aber an diesem 3. Oktober 1990 fühlten wir, wie der Atem der Geschichte uns anwehte. Nur wenige Menschen waren auf den Straßen, und während man am Tag zuvor praktisch keinen Unterschied zwischen Ost- und Westberlin gespürt hatte, war er nun wieder greifbar. Das Verkehrsaufkommen war geringer, die Straßen waren ruhiger, und optisch gab es sowieso keinen Zweifel.

Während wir noch unterwegs waren, wurde das letzte Symbol der DDR gestrichen, die Truppenfahne der Nationalen Volksarmee wurde in einer kleinen militärischen Zeremonie vom Mast genommen, "eingeholt", wie es im Jargon der Militärs hieß. Damit trat die NVA der Bundeswehr bei, und der neue Treueid der Militärs trat inkraft. Wir marschierten, mit der Videokamera bewaffnet, durch die Stadt und ließen langsam unsere Erinnerung an die schlimmen Dinge der letzten Nacht verblassen und durch die guten Erinnerungen an den Abend ablösen. Wir waren dabei gewesen, wenn auch auf andere Weise, als wir uns das wünschten, aber wir waren dabei, als der kalte Krieg endete.

Noch heute empfinde ich eine frohe Stimmung, wenn ich an die Wiedervereinigungstage in Berlin denke. Es war wundervoll, das Ende eines diktatorischen Staates miterleben zu dürfen. Natürlich hätte ich mir gewünscht, daß man mehr aufeinander zugegangen wäre, daß es mehr Gegenseitigkeit bei der Vereinigung gegeben hätte, damit die ehemaligen DDR-Bürger ihre Identität nicht völlig und auf einen Schlag verloren. Aber die Tatsache der Einheit an sich ist nach wie vor ein historischer Meilenstein und ein Grund für alle Deutschen, in ihrem gemeinsamen Land das beste daraus zu machen. Ganz Deutschland hat nun einen demokratischen Staat, an dem es bestimmt noch viel zu verbessern gibt. Aber gerade ein demokratischer Staat bietet auch die Möglichkeit dazu. Dessen sollten sich alle bewußt sein, und ich bin es. Die Einheit Deutschlands ist kein Ruhekissen, aber sie ist eine Wegmarkierung, eine beachtliche, kaum für möglich gehaltene obendrein. Ich bin sehr froh, dabei gewesen zu sein, als die 45 Jahre der Nachkriegsgeschichte ihr Ende fanden, die Teilung Deutschlands, die diesmal keine natürliche Sache war, endlich beseitigt wurde.

© 2000, Jens Bertrams


Auch mein Freund Thorsten Oberbossel hat einen Bericht über die Einheitsfeiern in Berlin geschrieben.


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