Erinnern Sie sich noch?

"Die Arbeit ist erledigt"

Geiselbefreiung in Mogadischu - Selbstmorde in Stammheim

18. Oktober 1977

Ich war acht Jahre alt, als mein Freund Jan und ich einen von ihm aufgeschnappten Witz erzählten, uns gegenseitig, und ihn immer wieder in Szene setzten. Der Inhalt ist mir nicht mehr bekannt, ich weiß noch, daß es etwas mit dem Himmel zu tun hatte, und daß Petrus immer wieder nach hinten "Buback, Buback, Buback" rief.

Ich war acht Jahre alt, als als meine Eltern in irgendeinem erregten Gespräch auf die Bildzeitung zu sprechen kamen und mein Vater sagte: "Bild sprach zuerst mit dem Toten." Das kam mir seltsam vor, und ich habe darüber nachgedacht, was das zu bedeuten hatte. Aber ich kam nicht recht dahinter.

Ich war acht Jahre alt, als ich ein Hörspiel hörte im Kinderradio des Westdeutschen Rundfunks. Es war der zweite Teil eines Hörspiels, in dem es um ein futuristisches Land namens Betalonien ging, und die Geschichte interessierte mich. Es ging da um viele politische Dinge, aber zum Beispiel auch um den Schutz des Waldes vor Abholzung. Und als der zweite Teil zuende war, ließ ich das Gerät, mit dem ich das Hörspiel aufgenommen hatte, einfach durchlaufen.

Kurz darauf ging die Kassette verloren, und ich habe sie erst dreizehn Jahre später wiedergefunden, aber nur ein einziges Mal, dann verschwand sie seltsamerweise wieder. Aber an diesem Tag im Jahre 1990 hörte ich mir dieses Hörspiel noch einmal an, an das ich nur verschwommene Erinnerungen hatte, und zu meiner Überraschung kamen hinter dem Hörspiel Nachrichten.

Dienstag, 18. Oktober 1977, 15 Uhr

"Das Bundeskabinett hat heute in einer zweieinhalbstündigen Sitzung dem Botschafter Somalias, der an der Besprechung teilnahm, für die hervorragende Zusammenarbeit bei der Befreiung der Geiseln in der nach Mogadischu entführten Lufthansa-Maschine gedankt..."

"Offenbar als Reaktion auf die Befreiungsaktion verübten die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Karl Raspe in der Nacht zum Dienstag Selbstmord..."

Im Frühjahr 1977 war die erste Generation der "Rote Armee Fraktion (RAF)" zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Als Reaktion war der damalige Generalbundesanwalt Siegfried Buback von der sogenannten zweiten Generation umgebracht worden. Im Sommer tötete die RAF den Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, Jürgen Ponto. Und am 5. September entführte eine Gruppe der RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und ermordete seine drei Begleitbeamten und seinen Fahrer kaltblütig in Köln. Danach begann eine in der Bundesrepublik einmalige Fahndungsaktion, und sechs Wochen lang ging es nur um dieses Thema. Wir Kinder wurden von der Aufregung so weit als möglich ferngehalten, doch die aufgeschnappten Äußerungen der Erwachsenen bewiesen uns, daß eine unerträgliche Spannung herrschte, und daß die Gesellschaft sich spaltete in die Befürworter einer sogenannten militärischen Lösung und die Befürworter eines staatlichen Einlenkens. Die Entführer hatten die Freilassung der ersten RAF-Generation gefordert.

Heute weiß man, daß man Schleyer womöglich hätte befreien können. Ein Polizist hatte das Versteck der Terroristen ausfindig gemacht, doch das Telegramm ging auf dem Weg ins Bundeskriminalamt verloren. Doch von alledem bekamen wir schon allein wegen der Nachrichtensperre nichts mit, die die Bundesregierung verhängt hatte. Sechs Wochen lang suchte man nach Schleyer, den man ende September nach Den Haag und später nach Frankreich brachte. Gleichzeitig versuchte man, mit den Entführern in Kontakt zu bleiben, sie hinzuhalten, um eine Befreiung organisieren zu können.

Doch am 13. Oktober überfiel ein palästinensisches Terrorkommando eine Lufthansamaschine, die von Mallorca aus nach Frankfurt fliegen sollte, und während man die Maschine von einem Ort zum anderen flog, nach Dubai, Aden und Mogadischu, forderte auch dieses Terrorkommando die Befreiung der RAF-Terroristen. Nun steckte die Bundesregierung in einer Zwickmühle. Doch Bundeskanzler Schmidt beschloß, auch hier nicht nachzugeben und beorderte die Sondergruppe 9 des Bundesgrenzschutzes (GSG 9) in den mittleren Osten und später nach Somalia, um die Geiseln notfalls mit Gewalt zu befreien.

Ich kann mich noch an eine Tagesschau erinnern, vielleicht die vom 17. Oktober 1977. Mich hat der Satz "Über eine Rutsche wird die Leiche des Flugkapitäns Jürgen Schuhmann aus dem Flugzeug heruntergelassen" sehr erschüttert. Ich wußte und verstand, daß hier ein Mensch einfach so umgebracht worden war. Obwohl ich manchmal diese Entführung wie ein spannendes Abenteuer verfolgte, erschütterte mich doch jetzt die Ernsthaftigkeit der ganzen Angelegenheit. Jürgen Schuhmann war in Aden, als er längere Zeit außerhalb des Flugzeuges verbracht hatte, um mit den Behörden zu reden, vom Chef der Terroristen erschossen worden, weil dieser glaubte, der Flugkapitän hätte sich davonmachen wollen. In Wahrheit hatten ihn die Soldaten draußen längere Zeit vernommen und festgehalten.

Irgendwie muß ich auch damals schon begriffen haben, daß die Situation nun ernst wurde. In derselben Tagesschau hieß es, die Bundesregierung wolle nun doch auf die Forderungen der Entführer eingehen. Dieses Gerücht wurde ausgestreut, damit die Entführer so lange ruhig abwarteten, bis die GSG 9 das Flugzeug stürmen konnte. Wir hörten Radio bis tief in die Nacht, meine Eltern und ich. Mein Vater ging immer wieder im Zimmer auf und ab. Er regte sich furchtbar über die Terroristen auf. "Wenn man die kriegt, die sollte man mal so richtig arbeiten lassen, damit sie mal wissen, wie es den normalen Leuten geht", schimpfte er.

Um 00:38 Uhr kam die Meldung, daß die Geiseln befreit worden waren. Hans-Jürgen Wischnewski, Staatsminister im Auswärtigen Amt, hatte von Mogadischu aus dem Kanzler mitgeteilt: "Die Arbeit ist erledigt!". Jahre später erfuhr ich, daß drei der Terroristen tot waren. Die vierte Terroristin, Souhaila Andrawes, bereute später ihre Tat und sagte zur Sache aus. "Jetzt bringen sie den Schleyer um", sagte meine Mutter. Ich verstand nicht, was das miteinander zu tun hatte, aber sie sollte recht behalten.

Die Namen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Karl Raspe waren mir bekannt. Ich wußte auch, daß sie im Gefängnis saßen. Damals glaubte ich, sie hätten den Generalbundesanwalt und den Bänker umgebracht, weil immer von der Baader-Meinhof-Bande oder der Baader-Meinhof-Gruppe die Rede war, wenn es um diese terroristischen Anschläge ging. In den von mir oben erwähnten 15-Uhr-Nachrichten des WDR erfuhr ich, daß sich die drei Terroristen umgebracht hatten und daß eine weitere Frau, die mir nicht bekannt war, Irmgard Möller, schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden war. In meiner Umgebung stellte sich niemand die Frage, ob es sich um Mord oder Selbstmord gehandelt hatte, wie das andernorts lange getan wurde. "Die konnten ihre Niederlage nicht verkraften", hieß es.

Mein Onkel war Polizist. Einen Tag nach diesen Ereignissen hatte meine Tante Geburtstag, und natürlich fuhren wir hin. Den Abend über hörte ich nichts anderes als: "Schleyer ist tot" und "gut, daß die Terroristen sich umgebracht haben". Die Erleichterung und der Zorn waren Dinge, die mir lieber waren als die riesige Anspannung und Angst der letzten Wochen. Auch ich war erleichtert und konnte gar nicht sagen, warum. Ich lachte, wiederum ohne zu wissen, warum, über den Witz mit der Bildzeitung, der später in den Satz mündete: "Bild sprach zuerst mit der Frikadelle". Geschmacklosigkeit hoch 5.

Wenige Jahre später versuchte ich, mehr über die Ereignisse des sogenannten "Deutschen Herbst" herauszubekommen. Ich sammelte alle möglichen Dokumente, Tonaufnahmen und später Datenmaterial auf Diskette. Inzwischen habe ich eine Datenmenge von weit über 4 oder 5 Megabytes auf meinem Rechner zu diesem Thema. Es war das erste politische Thema meines Lebens, das mich irgendwie bewegt hat. Nur Einzelheiten sind davon zurückgeblieben, und nur wenig von dem beklemmenden Gefühl kann ich noch irgendwo in mir ausmachen, doch auch für mich war dies eine Zäsur. Hier begann ich, mich für politische Ereignisse zu interessieren.

© 2000, Jens Bertrams


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