Es gibt wohl nicht viele weltgeschichtliche Ereignisse, die ich persönlich miterlebt habe, die bis heute noch so kontrovers diskutiert werden, wie der Supergau von Tschernobyl am 26. April 1986. Die Atomkraftbefürworter nehmen diesen verheerenden Unfall als Beweis dafür, wie notwendig es ist, eigene Kraftwerke weiterzubetreiben und zu forschen, sie sicherheitstechnisch zu verbessern, um Ländern mit veralteten oder technisch unausgegorenen Atomkraftwerken Alternativen zu bieten, die den Fortbestand der Anlagen mit höherem Risiko unnötig machen. Atomkraftgegner sehen in der Katastrophe von Tschernobyl den klarsten Beweis für die Gefahr selbst friedlich genutzter Atomenergie und weisen darauf hin, daß jener Störfall, wie er sich in Tschernobyl ereignet hat, sich zu jeder Zeit an jedem Ort wiederholen kann, wo Atomkraftwerke betrieben werden, und daß ein solcher Unfall sich auf den ganzen Planeten Erde auswirkt. Verbraucherverbände und Gesundheits- und Umweltgruppen führen an, daß durch den Unfall von Tschernobyl soviel Radioaktivität freigesetzt wurde, daß wir alle, die wir auf der Erde leben, noch Jahrzehnte mit daraus resultierenden Spätfolgen zu rechnen haben.
Das erste Mal, daß ich den Namen Tschernobyl gehört habe, war nach der Rückkehr unserer Jahrgangsstufe unseres Gymnasiums von einer Klassenfahrt zum Edersee, wo wir Rudern gelernt hatten. Ich war 15 Jahre alt und hatte mich in der kleinen Wohngruppe, wo vier Mädchen und sechs Jungen von zwei Betreuern pro Tag umsorgt wurden, gut eingerichtet.
Es war Ende April, als um sieben Uhr morgens der Nachrichtensprecher des hessischenRundfunks vermeldete, daß eine schwedische Strahlenmeßstation eine Erhöhung der radioaktiven Strahlung verzeichnete. Erste Mutmaßungen gingen dahin, daß die Strahlung aus der Umgebung des sowjetischen Atomkraftwerkes von Tschernobyl stammen könnten. Von dieser Meldung an vergingen einige Tage, in denen eine Strahlungsmessung vom nächsten Dementi der sowjetischen Regierung gefolgt wurde, bis schließlich am Anfang des Monats Mai von der Gorbatschov-Regierung eingestanden wurde, daß es am 26. April 1986 zu einem schweren Störfall gekommen sei. Näheres wurde jedoch nicht sofort preisgegeben.
Der Beginn des Monats Mai brachte mehr Details über den Verlauf der Katastrophe des bei Kiew gelegenen Atomkraftwerkes Tschernobyl. Demnach war es zu einem Brand der Graphitummantelung eines von vier Reaktorblöcken gekommen, der schlagartig große Mengen strahlender Substanzen, darunter Plutonium, Caesium und Strontium in die Erdatmosphäre geschleudert hatte. In den Nachrichten wurde von mehreren tausend Feuerwehrleuten gesprochen, die bei den Löscharbeiten unrettbar verstrahlt wurden. Die Region lag bereits unter einer stark strahlenden Wolke der ausgestoßenen Substanzen. Hunderttausende waren unmittelbar betroffen. Doch die ausgestoßenen Substanzen trieben mit dem Wind von osten her Richtung Mitteleuropa weiter. Die Radioaktivität stieg von einem Tag zum anderen weiter und weiter. Wir alle hörten in den Nachrichten von steigenden Werten. In der ersten Physikstunde, die nach der Veröffentlichung der Katastrophenmeldung abgehalten wurde, informierte unsere Klassenlehrerin auf Geheiß der Schulleitung über Radioaktivität, wie sie entsteht und gemessen wird. Ich hörte zum ersten Mal den Namen Bequerel, der als Maßeinheit für radioaktive Zerfälle pro Sekunde verwendet wurde. Ich wußte schon einiges über Radioaktivität, daß sie von den Sternen zur Erde kam, daß besonders schwere Atome wie Uran und Plutonium Strahlen aussendeten und daß die französische Mathematikerin und Physikerin Marie Curie zusammen mit ihrem Ehemann den Nobelpreis erhalten hatte, weil sie erstmalig die Elemente Radium und Polonium beschrieben hatte. Ich wußte auch, daß zuviel Strahlung gefährlich für den Menschen und alle von ihm verzehrten Pflanzen und Tiere ist. Dennoch war die Aussicht, von einer radioaktiven Wolke eingehüllt zu werden, nichts, was man mal irgendwo im Fernsehen gesehen oder aus Büchern herausgelesen hatte. Wir, die wir noch nicht mal richtig mit unserem Leben losgelegt hatten, erfuhren, daß wir alle von stark strahlenden Stoffen überschüttet wurden. Wir machten Witze darüber, welch "strahlendes Wetter" doch draußen sei und sahen den nächsten Tagen mit einer Mischung aus Unbehagen und gespielter oder echter Belustigung entgegen. Wie heftig sich das Alltagsleben verändern sollte, bekam ich am Ende des Schultages mit.
Als wir von der Schule in unsere Wohngruppen zurückkehrten, warteten unsere Betreuer mit einer Neuerung auf. Vor der Tür zum Wohnbereich hatten sie ein Blechregal aufgebaut, in das wir alle unsere Straßenschuhe hineinstellen mußten, bevor wir in den Wohnbereich gehen durften. Diese Vorkehrung wurde uns von unserem einzigen männlichen Betreuer erläutert, der schon seit unserer Einschulung in Marburg versuchte, uns zu einer rein ökologischen Lebensweise, inklusive vegetarischer Ernährung zu bekehren. Ich hätte ihm wohl auch mehr davon geglaubt, wenn er nicht zu seinem eigenen Widerspruch fast jede Stunde Zigaretten geraucht hätte. So war er für mich ein Priester, der seiner Gemeinde Wasser predigte, aber selbst dem Wein zusprach. Doch alle Gruppen zogen das mit dem Schuhregal durch. Mich wunderte nur eins: Wir mußten unsere Straßenschuhe dort hineinstellen. Aber, wenn wir den Wohnbereich verließen, stellten wir unsere Hausschuhe in das Regal. Ich bin mir bis heute sicher, daß wir trotz des Regals genug verstrahlten Staub in unseren Wohnbereich eingeschleppt haben. Hinzu kommt noch, daß dieses Regal direkt an der Wand stand, die das Treppenhaus von dem Doppelzimmer trennte,in dem ich zusammen mit einem Gruppenkameraden arbeitete, Musik hörte oder schlief. Für hochenergetische Gammastrahlung, die von den radioaktiven Substanzen ausging, stellte eine einfache Betonwand wohl kein Hindernis dar.
Nachrichten kündeten von höchstalarmierenden Strahlendosen, Problemen bei Nahrungsmitteln, die radioaktiv belastet waren, wie Milch oder Fleisch, Obst und Gemüse. Kinder durften nicht mehr im freien und insbesondere nicht mehr in Sandkästen spielen, und wenn der Regen kam, hatten wir alle irgendwie unter einem schützenden Dach zu sein. Dies bekam ich zweimal mit. Zum einen rief unsere Schulsekretärin in einer großen Pause alle Schüler vom Schulhof zurück, als es regnete. Zum Zweiten mußte ich mich auf einem Orientierungsgang in die Stadt mit mehreren Passanten zusammen in die Vorhalle eines Supermarktes stellen, um eine Regenschauer abzuwarten, obwohl wir alle Regenkleidung trugen.
Jeden Tag gab es neue Meldungen über erhöhte Strahlung, wurden wieder und wieder die Richtlinien für den Umgang mit der radioaktiven Verseuchung in den Funk- und Fernsehnachrichten heruntergebetet. Die Antiatomkraftbewegung erhielt in diesen Wochen des Mais 1986 einen ungeahnt hohen Zulauf aus allen Schichten der Gesellschaft. Jeder hatte Angst vor der Strahlung, die dazu führen sollte, daß ein Großteil aller mitteleuropäischen Menschen innerhalb von dreißig Jahren an Krebs erkranken könnte. Es war interessant, mitzuerleben, wie Hausfrauen und Mütter Seite an Seite mit rennomierten Hochschulprofessoren demonstrierten, wie sich Rockbands und andere Musikgruppen gegen bestehende Atomkraftwerke und die damals geplante Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen Wackersdorf engagierten. "Tschernobyl, das letzte Signal vor dem Overkill" sang der erfolgreiche Deutschrocker Wolf Mahn zusammen mit Mitgliedern von BAP und anderen bekannten Bands. Dieser Protestgesang wurde zum Megahit der Monate Mai bis Juli, und es war auch ein Test für Gorbatschovs neue Politik der Offenheit, wenngleich das sowjetische Volk wohl noch sehr lange im unklaren über den verheerenden Umweltschaden und die Folgen für Menschen und andere Lebewesen gehalten wurden. Die strahlende Wolke überzog derweil ganz Westeuropa, wenngleich die französische Regierung behauptete, in ihrem Lande sei keine überhöhte Strahlung zu messen gewesen. Das für und wider von Atomenergieanlagen polarisierte die Meinung der Bevölkerung derartig heftig, daß es zu langen Debatten zwischen der Energielobby und Umweltgruppen kam. Die Betreiber von Atomkraftwerken wollten abwiegeln. Es sei durch Tschernobyl zwar viel Strahlung freigesetzt worden, aber durch die oberirdischen Atomwaffenversuche der Supermächte USA und UdSSR in den 50er und 60er Jahren sei wesentlich mehr Strahlung in die Atmosphäre freigesetzt worden. Umweltgruppen, allen voran Green Peace, hielten dagegen, daß selbst geringe Strahlenmengen unvorhersehbare Schädigungen für Organismen beinhalteten und die festgesetzten Grenzwerte für eine zulässige Belastung von Gebäuden, Oberflächen und Lebensmitteln doch ein Hohn sei, da kein verbindlicher Verträglichkeitswert ermittelt werden könne. Dann hieß es, daß die stärkste Strahlung von einem Isotop des Jods, Jod 138, ausgehe, daß eine Halbwertszeit von gerade acht Tagen besitze. Das sollte bedeuten, daß nach acht Tagen der ausgestreute Anteil an Jod-138 auf die halbe Menge reduziert werde, nach 16 Tagen auf ein Viertel und nach 24 Tagen auf ein Achtel der Grundmenge. Doch da waren ja noch die Isotope von Caesium und Strontium, die, so namhafte Wissenschaftler, in Knochen eingelagert werden und über Jahre dort verbleiben konnten. Sicher ist für mich nur eines: Wenn damals jemand per politischer Eilverordnung die Abschaltung aller laufenden Atomkraftwerke hätte durchdrücken können, hätte die betreffende Regierungspartei bestimmt über 50 % Wählerstimmen bekommen. Doch die Grünen nahm man damals nicht für voll und hielt sie für alternative Spinner, die ja nicht wußten, was es bedeutete, Energieerzeuger einfach stillzulegen. Damals hatte sich die CDU-FDP-Koalition unter Helmut Kohl gerade erst mit ihren Idealen vom Wirtschaftsaufschwung so richtig angefreundet, als daß sie es sich mit den Atomkraftwerksbetreiberfirmen hätte verscherzen wollen, und auch die SPD hielt nichts von einem schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomkraft, zumal ja ein Land allein nichts bewegen könnte. So blieb Tschernobyl über zwei Monate das Hauptthema aller Nachrichtensendungen und bestimmte unseren Alltagstrott.
Anfang der Sommerferien gehörte die strahlende Wolke und die dagegen getroffenen Maßnahmen bereits zur Belanglosigkeit. Das Schuhregal war Ende Juni wieder abgebaut worden. Wir durften wieder mit dem Straßenstaub an den Schuhen in den Wohnbereich treten. Zwar gab es noch die eine oder andere Meldung über hochbelastete Nahrung, und auch in der Werbung, vor allem für Babynahrung, spielte Tschernobyl noch eine Rolle. Wir hatten uns wieder dem Alltag zugewandt, in dem wir nichts von einer Strahlenbelastung bewußt zur Kenntnis nahmen. Wir wußten nur, daß noch einiges radioaktives Zeug in der Atmosphäre herumflog und bekamen aus den Nachrichten mit, daß bereits hunderte von Bewohnern der Ukraine an den Zellschädigungen durch die hohe Strahlung erkrankt oder gestorben waren.
In den Ferien selbst berichtete mir ein Onkel, der zu einer Freiluft-Musikveranstaltung gegen Atomkraft im allgemeinen und der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf im besonderen, dem Anti-WAAhnsinnsfestival nach Wackersdorf gefahren war, wie die Stimmung dort war. Ich hörte, daß die Kohl-Regierung ein Bundesministerium für Umweltschutz und Reaktorsicherheit eingerichtet hatte, dessen erster Minister ein gewisser Herr Ballmann wurde.
Nach den Sommerferien kehrte entgültig wieder der alte Trott ein. Andere Nachrichten waren nun in den Sendungen wichtig, wie der Start der sowjetischen Raumstation MIR oder der Bundestagswahlkampf 1987.
Das ist jetzt alles 15 Jahre her. Sicher wird dem einen oder anderen noch viel mehr aus dieser Zeit als wichtig im Gedächtnis hängengeblieben sein. Aber allen, die damals wo auch immer mitbekamen, wie sich die strahlende Wolke über Europa ausgebreitet hat, dürfte in den Wochen zwischen Ende April und Anfang Juli die Frage nicht aus dem Kopf gegangen sein, ob immer alles gemacht werden sollte, was machbar ist.
Heute sind alle vier Reaktorblöcke von Tschernobyl abgeschaltet, für immer. Doch der Katastrophenblock, der schnell in einen sogenannten Betonsarkophag eingebettet worden war, strahlt immer noch. Immer noch kommen in der heute eigenständigen Ukraine Kinder mit Mißbildungen zur Welt oder wachsen mit Hautkrankheiten und Behinderungen auf. Zwar hat die neue Bundesregierung mit den Energieerzeugungskonzernen einen schrittweisen Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie beschlossen, doch wenn ich heute wieder hören muß, daß abgebrannte Brennstäbe durch Deutschland gefahren und in ausländische Wiederaufarbeitungsanlagen geschafft werden, frage ich mich doch, wieviel dieser Ausstiegsbeschluß wert ist. Denn den Atommüll werden wir noch Jahrhunderte haben, wenn auch der letzte Reaktor vom Netz gegangen sein wird.
Im Punkte weltweite Umweltkatastrophen ist der Reaktorbrand von Tschernobyl immer noch an führender Position. Selbst die verheerenden Ouml;lpesten, wie die der EXXON VALDEZ und anderer havarierter Tankschiffe, reichen in ihrer weltweiten direkten Auswirkung nicht an das heran, was die Strahlende Wolke von Tschernobyl bewirkt hat.
So nebenbei: Das Blechregal, in dem wir damals unsere Straßenschuhe hatten unterbringen müssen, habe ich ein Jahr später in einem unserer Kellerräume wiedergefunden. Ob es dort immer noch steht, weiß ich nicht. Falls ja, so könnte man es als trauriges Souvenir behalten, das bestimmt nicht nur vor Sauberkeit strahlt, falls jemand es mal abwischen sollte.