Wenn man mich fragt, was ich an den Tagen empfunden habe, an denen die weltweit glücklichste Revolution in Europa zu einem guten Ende fand, fallen mir an Emotionen Freude, eine gewisse Skepsis auf Grund späterer Ereignisse, Angst um die eigene Gesundheit und große Begeisterung im Nachhinein ein, die Vollendung der deutschen Einheit nach Jahrzehnten der Trennung im Brennpunkt der Ereignisse miterlebt zu haben ein.
In unserem Leistungskurs Gemeinschaftskunde waren wir zu dem Entschluß gekommen, mit einigen Leuten aus dem Religionskurs Michael Seidels nach Berlin zu fahren, um bei der Vollendung der politischen Einheit Deutschlands dabei zu sein. Mir gefiel der Gedanke sehr gut, bei dem wohl bedeutensten Ereigniss der Nachkriegsgeschichte life dabei zu sein. Unser Kursleiter, Hans Junker, empfand wohl eher was für die Beendigung der Unrechtsstaatsform DDR und die Aussicht auf ein Ende des unsinnigen kalten Krieges, das durch die Wiedervereinigung gekennzeichnet wurde, als für das Getue, was gerade die Regierung Kohl betrieb, die die Einheit als "ihr Werk" begriff. So beschlossen wir, am 2. Oktober nach Berlin zu fliegen und dort bis zum 5. Oktober zu bleiben. Unser Kursleiter hatte sogar ein Treffen mit seinen Angehörigen aus der bald aus Atlas und Geschichtsbuch getilgten DDR vereinbart, das am 3. Oktober stattfinden sollte.
Wir flogen also am 2. Oktober von Frankfurt aus nach Berlin. Für eine Dreiviertelstunde Flug standen wir 2 Stunden am Flughafen. Sicherheitsbeauftragte der Fluglinie Pan-Am, die heute auch schon Geschichte ist, wollten von uns wissen, was wir so mitnahmen und vor allem ob unsere elektrischen Geräte mal repariert worden seien oder nicht. Sie vermuteten wohl, daß jemand einen Sprengkörper in einem Walkman hätte, mit dem er oder sie dann Bombenstimmung verbreiten würde, unbeabsichtigt. Aber niemand hatte irgendwas beanstandungswürdiges dabei, und so konnten wir die besagte kurze Zeit fliegen.
Per Bus gings vom Flughafen Tegel am Nachmittag in die Innenstadt. Mit der U-Bahn fuhren wir in die Nähe unseres Hotels, wo wir erst einmal Quartier bezogen. Einige Minuten nach dem Verstauen des Gepäcks zogen wir los, um der ausgedienten Mauer, dem sogenannten antiimperialistischen Schutzwall, mit Hammer und Meißel zu Leibe zu rücken und in der Manier von Mauerspechten Steine zu entreißen: Souvenirs eines politischen Fehlversuchs. Ich brach insgesamt vier Steine aus der Mauer. Gemeinsam schafften wir ein Guckloch und riefen schon mal in den Osten hinüber. Danach nutzten wir die schon geöffneten Verbindungen, um von West- nach Ostberlin zu gehen. Dort bot sich uns ein ungewöhnliches Bild: Ein westdeutscher Polizeiwagen fuhr die Friedrichstraße entlang, wo früher Grenzsoldaten der DDR darauf aufpassten, daß niemand aus der "Republik" flüchtete oder in imperialistischer Absicht herein kam. Die Friedrichstraße, um dies nur kurz zu wiederholen, war die einzige U-Bahn-Station auf DDR-Gebiet, die eine Verbindung mit dem U-Bahn-Netz West besaß. Also stiegen hier alle ein und aus, die entwedermit einem Besuchervisum von Ost- nach West- oder von West- nach Ostberlin fahren wollten.
Wir hielten uns bis zum Abend in der Innenstadt auf und beobachteten das Treiben der Festvorbereitung. Weil zu diesem Zeitpunkt der Bundestagswahlkampf in die Endphase ging, standen dort auch Zelte und Info-Stände der wahlkämpfenden Parteien herum. Bemerkenswert dabei ist, daß die CDU wohl nur einen Infostand benötigte, während sich die SPD ein großes Bierzelt mit Blaskapelle und Getränkeausschank leistete. Einer unserer Mitschüler bekam noch einen "Oskar"-Aufkleber. Ich frage mich heute, wieviel so'n Ding wohl auf einer Kuriositätenversteigerung bringen würde. Klänge klassischer Musik, wohl eine Übertragung aus der Philharmonie, waren an den Straßenecken zu hören. Einer der feierte präsentierte eine kleine brennende Kerze und rief: "Das ist Honeckers Lebenslicht. Das brennt nur noch drei Stunden."
Reporter verschiedener Medien aus aller Welt hatten sich unter die Passanten gemischt und führten spontane Interviews. Eine amerikanische Radioreporterin fragte mich, was ich von der Einheit hielt und ich antwortete, daß ich zwar froh darüber sei, daß die DDR abgeschafft würde, aber nicht so ganz der Euphorie anhing. Denn was wirklich alles auf uns zukommen würde, eben dann für alle Deutschen gemeinsam, wollte ja zu diesem Zeitpunkt keiner wissen. Man freute sich halt.
Unser Kurs hatte sich aufgeteilt. Die, die noch was sehen konnten, hatten sich ohne Begleitperson in der Stadt umgesehen und wollten für sich entscheiden, ob sie noch am Reichstag auf die Vereinigungsrede von Bundeskanzler Kohl warten wollten oder vielleicht doch das sich abzeichnende Spektakel meiden wollten. Mein Freund Jens und ich hatten unsere mitfahrende Betreuerin und unseren Kursleiter dazu überredet, mit uns durch das Brandenburger Tor zu gehen. Zunächst aßen und tranken wir noch was, dann gings per U-Bahn zur Straße Unter den Linden. Es war schon eine aufgeheiterte Stimmung. In unserem U-Bahn-Wagen sang ein Straßenmusiker zur Gitarre "Blowing in the Wind" von Bob Dyllon, und hier und dort konnte ich schon diverse angeheiterte Leute heraushören.
Wir kamen so um 23.45 Uhr auf der Straße Unter den Linden an. Schon jetzt zündeten einzelne Leute FEuerwerkskörper und johlten sichtlich alkoholisiert. Irgendwer ließ an einem Heliumballon eine DDR-Fahne hochsteigen, was von woanders her mit "Auf Wiedersehen!" kommentiert wurde. Es wurden immer mehr Menschen, die auf das Brandenburger Tor zudrängten. Wir gerieten unvermittelt in eine Masse gegenläufiger Menschenströme von Ost nach West und umgekehrt. Dann erreichten wir das Brandenburger Tor, und es wurde verdammt eng. Wir wurden zusammengedrängelt, mußten höllisch aufpassen, bloß nicht zu stolpern, weil die nachdrängende Menge uns womöglich niedergetrampelt hätte. Eine entkorkte Sektflasche ergoß etwas von ihrem Inhalt über uns. Dazu schmissen irgendwelche Leichtsinnigen brennende Feuerwerkskörper in die Luft, ohne Rücksicht darauf, wo sie landeten und explodierten. Einmal schwirrte ein Luftheuler knapp über unsere Köpfe hinweg. Dann krachte ein Kanonenschlag in unserer unmittelbaren Nähe, so daß ich für einige Sekunden Ohrenklingeln hatte. Dies und das immer erdrückender werdende Menschenaufkommen trieben mich dazu, mich zu fragen, ob ich hier noch mal ohne schwere Verletzungen wieder rauskommen würde. Irgendwie haben wir es durch das Brandenburger Tor geschafft und kamen mit einem Menschenstrom zu einem hohen Metallzaun, der den Tiergarten absperrte. Nun staute sich die Menge noch mehr. Immer noch explodierten knatterten oder heulten Feuerwerkskörper über unseren Köpfen, und ich empfand ziemliche Angst davor, was noch alles passieren könnte. Viele Leute waren schon heftig angetrunken und redeten nur davon, daß doch alles wunderschön sei. Offenbar hatte niemand so richtig mitbekommen, daß wir alle uns selbst in große Gefahr gebracht haben. So standen wir an den Zaun gedrängelt, bis nach 00.00 Uhr ein großes, professionelles Feuerwerk im Tiergarten abgebrannt wurde, was die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zog und die Drängelei etwas minderte. Wir standen nicht vor dem Reichstag. Deshalb haben wir den Herrn Kohl nicht gehört. Außerdem hätte ich dafür wohl nicht viel Stimmung gehabt. Denn sowohl unser Kursleiter, als auch wir, die wir mit ihm diesem Wahnsinn entgegengegangen waren, hofften nur noch darauf, hier wieder wegzukommen.
Als das Feuerwerk beendet war, kam endlich die Polizei und riß den Metallzaun nieder. Wie auf ein Kommando hin rannten wir alle los, über den Zaun weg, in den Tiergarten hinein. Dort zerstreute sich die Menge endlich so stark, daß wir wieder ungefährdet laufen oder stehenbleiben konnten. Wir nahmen erst einmal eine Pause, um wieder zur Besinnung zu kommen und uns von der Platzangst freizumachen, die wir ausnahmslos alle empfunden hatten. Danach ging's wieder in unser Hotel Zurück. Unsere Betreuerin, die bei der Kanonenschlagexplosion leichte Verbrennungen erlitten hatte, mußte sich erst behandeln. Irgendwann fanden Jens und Ich, die wir uns ein Zimmer teilten, in den Schlaf.
Der Morgen des Ddritten Oktobers 1990 war still, ruhig und offenbar zur Erholung von der wilden Feier in die Einheit gedacht: Deutschland einig Katerland.
An diesem Morgen trafen unser Kursleiter, Jens und ich uns mit Hans' Verwandten aus der nun verschwundenen DDR. An die genaue Uhrzeit kann ich mich nicht direkt erinnern, muß so um 9 oder 10 Uhr heruum gewesen sein. Wir tranken zunächst ostdeutschen Sekt auf die Einheit und das wir nun alle miteinander Bundesbürger waren. Danach marschierten wir nochmal zum Brandenburger Tor, durch es hindurch und in die Ostberliner Stadtbezirke, vorbei am Sitz des Deutschen Fernsehfunks, des ehemaligen Staatsmediums des SED-Staates. Auch war selbst für Vollblinde irgendwie zu erkennen, daß der Ostteil sich vom Westteil unterschied. Die Straßen fühlten sich anders an, waren nicht so verkehrsreich und belebt. Gut, daß an diesem Mittwoch erst alle ausschlafen mußten, die die große Feier mitgemacht hatten, habe ich schon erwähnt. Dennoch, vielleicht auch mental bestimmt, kam es mir so vor, daß in Ostberlin eine andere Atmosphäre vorherrschte.
Wir unterhielten uns über unsere Gedanken über die Einheit. Wir freuten uns alle, daß nun jeder Deutsche frei von oberer Kontrolle war und hingehen konnte, wo er oder sie hin wollte, ohne eine Sondererlaubnis zu beantragen. Was die Zukunft anging, so waren wir uns auch darüber einig, daß wir nur auf Besserung für die neuen Bundesbürger hoffen konnten. Über detaillierte politische Ansichten haben wir so nicht debattiert, womöglich auch, um uns nicht die gute Stimmung kaputt zu machen, die wir nach dem Gedränge unter dem Brandenburger Tor sehr nötig hatten. So plauderten wir munter über dieses und jenes. Hans warf nur ein, daß ihn seine Stasi-Akte interessieren würde, weil er davon ausging, daß man eine über ihn angelegt habe, als er die DDR einmal besuchte. Zwischendurch rief einer von Hans' Verwandten einen Angehörigen an und begrüßte ihn mit dem Ausruf: "Hallo, Bundesbürger!"
Am Nachmittag bekamen Jens und ich noch die Gelegenheit, ein Musterexemplar Deutsch-Demokratischer Automobiltechnik zu begutachten: Wir betasteten einen Trabant 601 und nahmen zur Probe darin Platz. Ich stellte danach fest, daß der Trabbi trotz aller Spötteleien von innen tatsächlich ein Auto sei. Dann fuhr der Besuch aus den taufrischen neuen Bundesländern mit dem Trabbi nach Hause, unter dem typischen, heute würde ich sagen, klassischen Scheppern und Knattern des Zwickauer Zweitakters.
Der Abend klang mit Essen und Trinken aus.
Am 4. Oktober stand eine Busrundfahrt durch Berlin an. Dabei ging es auch durch den Ostbezirk. Hier zeigte sich denen, die sehen konnten, wie heftig sich doch der westliche Stadtteil vom östlichen unterschied. Altbauten, renovierungsbedürftig, prägten die Stadtbezirke der ehemaligen DDR-Hauptstadt. Ich erinnerte mich an meinen ersten Berlinbesuch mit meiner Mutter 1981. Damals war für den Bus am Checkpoint Charlie Schluß mit der Fahrt gen Osten. Nun konnten nicht nur Rundfahrtbusse, sondern alle möglichen Fahrzeuge ungehindert durch Berlin fahren.
Nach der Stadtrundfahrt ging es zu Fuß über den Kurfürstendamm zum Alexanderplatz und wieder zurück zu unserem Hotel. Wir duschten nochmal, dann ging es zu einer Weinprobe. Dabei spielte ein Arkordeonspieler auf, der um den Tisch herumging und für sein Spiel belohnt wurde. Das war der Ausklang unserer kurzen Reise in die ehemalige Mauerstadt.
Am Freitag dem 5. Oktober 1990 flogen wir mit Pan-Am zurück nach Frankfurt. Wieder mußten wir einen Sicherheitscheck über uns ergehen lassen, der länger dauerte, als der Flug selbst. Von Frankfurt aus ging es mit der Bahn wieder nach Marburg zurück. Der Zug kam verspätet an. Jens hatte von seinem Schwager die Erlaubnis bekommen, daß ich mit ihm zusammen nach Solingen fahren konnte. Da unser Zug verspätet ankam, war Jens' Schwager entsprechend gereizt. Hinzu kam noch, daß ein Defekt am Zündschloß die Abfahrt verzögerte. So kam es, daß wir spät abends, zwischen 7 und 8 Uhr in Solingen eintrafen, wo mein Vater auf mich wartete, ebenfalls leicht frustriert. Denn wir wollten früh ins Bett, da wir am Tag darauf eine einwöchige Urlaubsfahrt antreten wollten.
© 2000 by Thorsten Oberbossel