"In Deutschland hat sich etwas sensationelles Ereignet", schrieb die deutsche "Berliner Zeitung" in dieser Woche. Und damit hat die Zeitung recht. Eine der größten Industrienationen der Welt steht an dem Punkt, eine hochtechnologische Entwicklung zu stoppen. Dies ist, so das Fazid auch vieler deutscher Politiker, ein historischer Tag. Ein unumkehrbarer Vertrag über den Ausstieg aus der Kernenergie, über den fast zwei Jahre verhandelt wurde, ist endlich unter Dach und Fach.
Nach diesem Vertrag erhält jedes der 19 Atomkraftwerke eine durchschnittliche Laufzeit von 32 Jahren nach Inbetriebnahme zuerkannt. Das kann bedeuten, daß das erste Kraftwerk bereits in zwei Jahren abgeschaltet wird. Die letzte kerntechnische Anlage soll dann rund 2021 vom Netz gehen.
Ganz sicher ist das allerdings nicht, da kein definitives Ausstiegsdatum festgelegt wurde. Die Stromkonzerne dürfen die Laufzeit der einzelnen Kraftwerke untereinander verschieben. In der Praxis bedeutet dies, daß die eine Anlage länger laufen kann, wenn dafür eine Andere früher abgeschaltet wird.
Bundeskanzler Schröder nannte das erreichte Resultat einen "außergewöhnlich verständigen Kompromiß", die Energieerzeugungsunternehmen sprechen von einer "ehrlichen Lösung". Auch Umweltminister Jürgen Trittin von den Grünen konnte sich mit dem Vertrag anfreunden. Allerdings mußte seine Partei akzeptieren, daß es kein endgültiges Datum für den Ausstieg aus der Kernenergie gibt. Darüber hinaus bleiben Atommülltransporte in Deutschland noch bis 2005 erlaubt. Und die führen immer wieder zu heftigen Protesten, vor allem bei den Grünen. Für die Umweltpartei wird es also noch sehr schwierig werden, die Basis zu überzeugen.
Für Bundeskanzler Schröder von der sozialdemokratischen SPD liegt der Fall anders. Für ihn war von großem Belang, daß die Vereinbarung in Übereinstimmung mit der Industrie zustande kam, und das ist ihm gelungen. Als Gegenleistung mußte sich die Regierung mit den Flexiblen Laufzeiten einverstanden erklären.
Deutschland ist das erste führende Industrieland, daß Konsequenzen aus der stark verminderten Akzeptanz der Kernenergie zieht. Vor allem seit dem Unglück von Tschernobyl im Jahre 1986 ist eine große Mehrheit der Deutschen für die Abschaffung der Atomkraft. Der Amtsantritt der linksgerichteten Regierung von SPD und Grünen machte diesen Schritt möglich. Schweden war zwar den Deutschen etwas voraus, doch dort liegt die Stromindustrie noch im heftigen Streit mit der Regierung. In Frankreich ist die Situation noch schwieriger, denn die Franzosen sind viel stärker von der Kernenergie abhängig als Deutschland, wo nur 30 Prozent des Energieverbrauchs über die Atomkraft gedeckt wird.
Für die Länder Osteuropas gilt, daß sie nur zur Abschaffung der Kernenergie bereit sind, wenn dieser eine ausreichende finanzielle Unterstützung des Westens gegenübersteht. Als Vorbild dient sicherlich die Ukraine, die nach der angekündigten Schließung von Tschernobyl auf mehrere Milliarden Dollar Finanzhilfe zählen kann.
Der Vertrag gibt der Deutschen Industrie ausreichend Zeit, um alternative Energiequellen zu erschließen. Das soll auch verhindern, daß Deutschland in der Zukunft Atomstrom aus unsicheren osteuropäischen Kraftwerken importieren muß. Deutschland wird sich endgültig anderen Formen der Energiegewinnung zuwenden.
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