"Wir sind die Toten"

Abgesang auf die persönliche Intimität

7. März 2000

Nur diesem etwas mißratenen Bauwerk hatte Winston Smith zu verdanken, daß er ein Tagebuch führen konnte, ohne dabei vom ständig eingeschalteten Televisor beobachtet zu werden. Der Held des dramatischen Zukunftsromans "1984" und seine Geliebte scheitern aber kläglich, werden von der Gedankenpolizei festgenommen, gefoltert, und unterwerfen sich schließlich dem allgegenwärtigen Regime. Überall sieht ihnen das Bild des Diktators nach. Und überall steht: "Big brother is watching you".

Winston Smith würde sich heute noch glücklich schätzen, denn die Überwachung durch den Staat ist hier und heute noch nicht perfekt und soll es auch nicht werden. Gott sei dank ist uns das erspart geblieben.

Aber vollständige Überwachung gibt es auch heute. Angefangen hat das Ganze nicht beim Staat, sondern bei der Medienindustrie. Das Stichwort heißt "Reality-TV". Seit dem ersten März läuft auf einem deutschen Fernsehkanal eine zunächst in Holland gezeigte Sendung namens "big brother". 10 Menschen lassen sich in einen Wohncontainer einsperren und von 28 Kameras rund um die Uhr beobachten. Sie machen das freiwillig, und sie wissen auch, daß die Zuschauer über ihren Verbleib in der WG entscheiden, alle zwei Wochen muß einer gehen. Wer langweilig ist, wer zickig ist, wer persönliche Befindlichkeiten hat, der ist als erster dran. Eine Kandidatin hatte ihr Mückennetz mitgebracht, um sich etwas geschützt ausziehen zu können, doch das wurde ihr verboten. Nach fünf Tagen schied sie freiwillig aus, und zugleich hatten sie die anderen Bewohner auf Platz 1 der Abschußliste gesetzt. Sie machte nichts her, war etwas zurückhaltender. Massenvoyeurismus greift um sich, man will das Leben im Fernsehen sehen.

Diese jugendlich aufgemachte Show mit täglich 45 Minuten Sendezeit ist der Beginn einer Entwicklung hin zur ständigen Beobachtung von Menschen in allen Lebenslagen, die totale Ausschaltung der Intimität. Die Zuschauer stürzen sich drauf, glauben, am Gruppenverhalten der Eingesperrten eigene Probleme und deren Lösung zu erkennen, oder wollen einfach nur die Macht spüren, Leute sogar beim Sex oder bei der Notdurft ansehen zu können. Was gezeigt wird entscheiden die Macher, sie prägen auch das Bild der einzelnen Kandidaten in der Öffentlichkeit, manipulieren die Zuschauermeinung und sorgen schon dafür, daß der "Richtige" nach 100 Tagen die 250000 Mark gewinnt und zum Star wird.

Natürlich beschäftigen sich nun auch die Medienwächter, die Landesrundfunkanstalten, mit dieser Sendung und wollen entscheiden, ob sie verboten wird. Der Sender hat inzwischen zugestimmt, daß es einen Raum geben wird, in den sich die Kandidaten bis zu einer Stunde täglich zurückziehen dürfen, damit wäre ja schließlich die Menschenwürde gewahrt. Dabei wird aber Augenwischerei betrieben. Die Reihenfolge der Personen, die dem Publikum als Rauszuwerfende vorgeschlagen werden, wird von den Hausbewohnern festgelegt. Wer also besonders lange im privaten Kämmerlein verbringt, wird damit rechnen müssen, als nächstes vorgeschlagen zu werden. Und überhaupt geht die ganze Show zu Lasten der Schwächeren, derer, die nicht besonders flippig, abgedreht oder exotisch sind.

Was finden eigentlich Leute daran, im Fernsehen andere Menschen beim Duschen, Umziehen, Onanieren, Weinen, Schimpfen oder anderen sogenannten "Lächerlichkeiten" beobachten zu können? Woher kommt diese ungeheure Schadenfreude, die ein großes Motiv für diesen Massenvoyeurismus sein dürfte? Sicher: Spanner hat es immer gegeben, aber noch nie so, daß 24 Stunden lang Kameras alles beobachtet haben, damit Programmmacher dann die größten Peinlichkeiten aussuchen und zeigen können, damit auch nur ja jeder darüber lacht. Wo ist der Respekt für die Privatsphäre, die Anerkennung der Tatsache, daß niemand perfekt ist? Wo ist die Würde des Menschen, die nicht einmal mit seinem Einverständnis angetastet werden darf?

Es geht mir eigentlich nicht darum, hier einen moralischen Stab zu brechen über Menschen, die eine scheinbar besonders kreative Idee haben und andere, denen es Spaß macht, daran teilzunehmen, zumal es ja eine stattliche Prämie für den gibt, der nicht rausgeschmissen wird. Es geht mir vielmehr darum, eine bestimmte Grenze nicht zu überschreiten und das Gefühl dafür zurückzubringen, daß solche Grenzen die Grundlage eines geordneten Zusammenlebens sind. Niemand, auch kein Fernsehmacher, hat das Recht, beispielsweise meine Korpulenz und die damit verbundene Tollpatschigkeit in diskriminierender Weise zu zeigen. Das Auswahlverfahren sorgt freilich dafür, daß unansehnliche Personen gar nicht erst in die Sendung kommen, was aber gleichzeitig bedeutet, daß in der Gesellschaft der Eindruck entsteht, sie bestünde nur aus solchen Personen. Der "normale Mensch" ist zwischen zwanzig und vierundvierzig, hübsch, schlank, gutaussehend, - Entschuldigung - zum Herzerweichen bescheuert und oberflächlich.

Aber es gibt viel allgemeinere Gründe für meine fulminante Ablehnung des "Reality-TV". Der Entzug jeder Privatsphäre und der Gruppendruck wegen des erhofften Geldes und der Abschußliste verstößt meiner Ansicht nach gegen die Unveräußerlichkeit und Unverletzlichkeit der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Die Macher behaupten, daß niemand nach dieser Sendung Schaden nehmen würde. Eine Psychiaterin beurteilte das ganz anders: Der ständige Druck rufe eine enorme Belastung hervor, kommentierte sie. Und die Frau, die - aus welchen Gründen auch immer - aus dem Projekt früh ausstieg, wird vielleicht irgendwann sagen, daß sie Schaden genommen hat, es sei denn, sie hat einen Schweigevertrag mit dem Sender abgeschlossen.

Ich glaube, daß viele Menschen sich eine solche Sendung ansehen, weil sie Abwechslung, Spaß und Macht wollen. Sie wollen über die Peinlichkeiten lachen, wollen die Probleme in einer ständig überwachten Bude einmal hautnah miterleben, ohne sich selbst einsperren lassen zu müssen. Damit wird ganz langsam der täglichen Durchleuchtung von Menschen eine Akzeptanz verschafft, die eine demokratisch verfaßte Gesellschaft unter keinen Umständen verträgt. Die Privatsphäre, der Schutz unserer eigenen vier Wände, der Raum, in dem wir unbeobachtet Dinge tun, die niemand sehen kann, oder nur dann, wenn wir demjenigen vertrauen, ist die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß wir es mit dem schwieriger werdenden Alltag aufnehmen könen. Wer uns diese Privatsphäre nimmt, macht uns zum gläsernen Menschen. Folgerichtig ist in unserer Zeit, daß die Bespitzelung von der Wirtschaft ausgeht, nicht direkt von staatlichen Stellen.

Als Winston Smith und seine geliebte Julia von der Gedankenpolizei festgenommen wurden, wußten sie in ihrer gläsernen Gesellschaft bereits, daß sie verloren hatten. Sekunden vor dem Einmarsch derer, die sie später folterten, hatte Julia es ausgesprochen. "genießen wir diesen Augenblick", hatte sie sinngemäß gesagt, denn "Wir sind die Toten", Relikte einer freieren Epoche. Wir sollten der schleichenden Unfreiheit entgegentreten.

© 2000, Jens Bertrams

Das yahoo-Big-Brother-Special

Zur Themenübersicht

Zu meiner Hauptseite