Das hätte sich das neue Führungsduo der CDU ganz bestimmt nicht träumen lassen, daß ihnen bei der Prestigefrage der Zustimmung zur Rot-Grünen Steuerreform die eigenen Länderchefs in den Rücken fallen. Vor der entscheidenden Abstimmung im Bundesrat gaben sich Merkel und März siegessicher, behaupteten, die Regierung müsse ihnen noch viel weiter entgegenkommen, damit die Steuerreform noch mehr die "Handschrift der Union" trage. Vor allem der Fraktionsvorsitzende hatte hoch gepokert und verloren, denn er hatte die Steuerreform, die alle wollen, aus rein taktischen Gründen abgelehnt und sich an kleinen, unwichtigen Detailfragen wie der Dividendebesteuerung festgebissen. Derweil handelte die Regierung und bot den Ländern, in denen große Koalitionen regieren, finanzielle Unterstützung an, um die ihnen enstehenden Belastungen auszugleichen. Berlins regierender Bürgermeister Diepgen ließ sich denn auch nicht lange bitten und entschied sich dafür, der Steuerreform zuzustimmen.
Nun redet man natürlich in der Union zum einen von Verrat, zum anderen von Führungskrise. Beides ist, so denke ich, ungerechtfertigt. Daß die Landesregierungen ungeachtet der Parteizugehörigkeit der Minister und des Stimmführers im Bundesrat zuvörderst die Interessen ihres Landes vertreten und nicht die Parteiinteressen, vor allem bei so einem taktischen Manöver wie der Ablehnung einer Reform, die selbst die Wirtschaft will, das ist ein Stück demokratischer Normalität. Der Bundesrat ist eben kein Instrument der Parteiendemokratie, sondern des Föderalismus in der Bundesrepublik. Die massive Schelte aus Bayern ist denn auch Ausdruck eines verfehlten Demokratieverständnisses in der straff organisierten CSU von Edmund Stoiber. Verrat ist ein sehr ungerechtfertigter Ausdruck für die Gewissensentscheidung eines Regierungsvertreters im Bundesrat, auch wenn die Unterstellung zutreffen sollte, die Bundesregierung habe die Länder mit Geschenken geködert. Stimmte diese Annahme, und es spricht einiges dafür, dann könnte die Union andererseits aber auch zufrieden sein. Die Regierung wäre ihren Forderungen im Endeffekt auf Umwegen ein weiteres Stück entgegengekommen.
Aber auch die These von der Führungskrise der Union ist ungerechtfertigt. Dieser These liegt dasselbe falsche Demokratieverständnis zugrunde, das abweichende Meinungen zum Verrat hochstilisiert. Zwar hätte das dynamische Duo an der Unionsspitze ahnen können, daß die betroffenen Länder möglicherweise anders entscheiden würden, als es der Präsidiumsbeschluß der Union vorsah, doch das allein macht die Führung nicht schwach. Unerfahrenheit mit dem Alltag als Partei- und Fraktionsvorsitzende mag ein Grund für die Fehleinschätzung sein. Zu lernen ist daraus, daß man das Abstimmungsverhalten der Länderregierungen der Bundesländer nicht durch Präsidiumsbeschlüsse einer Partei bestimmt, schon gar nicht, wenn es in der entsprechenden Regierung Koalitionen gibt, auf die man Rücksicht nehmen muß. Zu lernen ist daraus, daß man den Hochmut der Staatspartei ablegen sollte, um den freiheitlich-demokratischen Prinzipien unseres föderalen Bundesstaates Rechnung zu tragen.
Das Sommerloch macht aus einem Prestigeverlust eine Staatsaffäre. Dabei haben alle ein wichtiges Ziel erreicht, die Steuerreform ist durchgesetzt worden. Natürlich hat die Union Grund, sich zu ärgern. Sie hatte vor, die Regierung im Sommertheater vor sich herzutreiben, die Steuerreformpolitik als unflexibel und kompromißlos anzuprangern. Jetzt hat sich das Thema des Sommertheaters verändert, das Stück heißt nun: Was geschieht mit den Umfallern?
Es wäre ein schlechtes Signal, wenn die Parteiführung der Union nun die Landesfürsten disziplinarisch belangen würde, die der Steuerreform zugestimmt haben. Die Medien fragen bereits nach Konsequenzen, denn unter Helmut Kohl hätte es ein solch abweichlerisches Verhalten niemals gegeben. Doch eine demokratische Partei sollte in der Lage sein, demokratische Abstimmungen zu ertragen, denn sonst verkommt die Demokratie zur bloßen Makulatur. Wenn von vorneherein klar ist, wie eine Entscheidung ausgeht, dann handelt es sich nicht mehr um Demokratie, dann verkommt ein parlamentarisches Organ zum Machtinstrument der herrschenden Klasse oder Gruppe, auch dann, wie wir bei dem gescheiterten Steuerreformablehnungsversuch gesehen haben, wenn diese Gruppe nicht die Regierung ist.
© 2000, Jens Bertrams