Noch nie war die Wahl zum US-Präsidenten so spannend wie diesesmal. Die Briefwähler werden es sein, die ihren Ausgang bestimmen, und über 19000 ungültige Stimmen dürfte es eine Gerichtsverhandlung geben. Das Hin und Her dieser Wahl zum 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten legt die systemimmanente Schwäche der alten Verfassungskonstruktion der USA offen, die manchmal auch einen Kandidaten ohne Stimmenmehrheit ins weiße Haus bringt.
Al Gore, der Präsidentschaftskandidat der demokratischen Partei, hat 200000 Stimmen in der Gesamtbevölkerung mehr als sein Gegenkandidat George W. Bush von den Republikanern. Trotzdem sieht es so aus, als würde Bush Präsident werden. Der Grund dafür ist das Mehrheitswahlrecht bei der Bestimmung des Wahlmännergremiums, das die offizielle Präsidentenwahl durchführt. Wer in einem Bundesstaat nur eine Stimmem ehr als sein Gegner hat, erhält alle Wahlmänner dieses Staates. Darum wird jetzt in Florida um die 800 Stimmen gerungen, die die Beiden voneinander trennen, denn sie ntscheiden die Wahl. Wer Florida hat, bekomm die Mehrheit im Wahlmännergremium. Und nur wegen dieser gespannten Situation sind auch die 19000 für ungültig erklärten Stimmen so wichtig, die dadurch zustande kamen, daß viele Menschen wegen der kompliziert aufgebauten Stimmzettel ihre Stimme zunächst falsch gaben und dann korrigierten, was die Ungültigkeit der Stimmzettel bedeutet. Da diese Wähler wohl mehrheitlich für Gore gestimmt hätten, erwägt der Demokrat, die Wahl in den betroffenen Bezirken gerichtlich anzufechten. Wäre nur die Mehrheit der Stimmen im gesamten Land entscheidend, wäre die Entscheidung auch ohne die 19000 Stimmen bereits gefallen.
Diese Wahl hat die amerikanische Bevölkerung gespalten. "Es ist, als haben zwei Nationen gewählt", schreibt heute die Washington Post. In den großen Städten wählt man Gore, in den ländlichen Gebieten Bush, der für mehr Moral und mehr Waffen steht. Schon wegen dieser Polarisierung wäre es notwendig, das Wahlsystem zu reformieren. In einer Zeit, in der gerade die USA auf moderne Technologien setzen, dürfte dies kein Problem sein. Doch wer auch nur eine Verfassungsänderung erwähnt, um eher verhältniswahlrechtliche Zustände herzustellen, der begeht in den USA ein Sakrileg. Dort ändert man die Verfassung der Väter nicht, man ergänzt sie höchstens. Das uralte Wahlsystem jedoch wird beibehalten, weil die Verfassung es bereits vorschreibt. In der alten Zeit, wo es auf eindeutige Stimmergebnisse ankam, und wo die Staaten oft noch Wochenreisen voneinander entfernt lagen, war die Wahl des Präsidenten durch das Wahlmännergremium eine gute und richtige Sache, die der wirklichen Meinung des Volkes zumindest sehr nahe kam, heute aber nicht mehr. Bei seiner zweiten Wahl 1985 errang Ronald Reagan beispielsweise beinahe alle Staaten, etwa 530 der 538 Stimmberechtigten Wahlmänner mußten nach der Auszählung in den Einzelstaaten für ihn stimmen. Das waren mehr als 99 Prozent der Wahlmänner. Doch der Präsident hatte nicht 99 Prozent der Stimmen erhalten, sondern rund 55.
Die Krise, in der sich die Verfassungsordnung der USA derzeit befindet, hat nichts mit einer momentanen Wirtschaftssituatiojn oder einem einzelnen, festlegbaren Ereignis zu tun. Sie liegt in einem alten, traditionellen Wahlsystem begründet, das nur unzureichend die Stimmung in der Bevölkerung wiedergibt. Wenn die Wiederholungsauszählung in Florida beendet ist, und wenn die 19000 Stimmen vom Gericht doch für gültig erklärt werden sollten, dann sind die meist weniger als 2000 Briefwähler das Zünglein an der Waage im diesjährigen Wahlkampf. Nach der Stimenverteilung im gesamten Land wäre das nicht nötig.
Natürlich erkennt man auch in Amerika, welche Schwierigkeiten das Verfassungskonstrukt aus dem 18. Jahrhundert birgt. Doch nachdem ein Sprecher Gores dies einmal angesprochen hatte, beeilte sich der derzeitige Vizepräsident gleich zu versichern, daß er loyal zur Verfassung stehe und nicht beabsichtige, sie zu ändern. Das wäre auch schwierig, denn dazu wäre die Zustimmung von zweidritteln der Staaten notwendig, und sie würden bei einer Direktwahl des Präsidenten einen Großteil ihres Einflusses auf die Bundespolitik verlieren und einer solchen Änderung wohl kaum ihren Segen geben. So bleibt uns nur, den Ausgang der zweiten Stimmenauszählung in Florida abzuwarten, oder den Ausgang der Gerichtsverhandlung, falls Al Gore sich zu einer gerichtlichen Überprüfung entschließen sollte.
© 2000, Jens Bertrams