Wann hört eigentlich ein Rechtsstaat auf, ein solcher zu sein? Rein formaljuristisch gesehen hört er dann auf, ein Rechtsstaat zu sein, wenn man sich nicht mehr an das Gesetz halten muß. Das wird oft übersehen, denn Recht hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Das muß man immer wieder lernen.
Auch ein Staat, in dem Korruption, Lüge, Machtmißbrauch, Bestechung der Politik und Staatsparteigehabe vom Gesetz nicht verboten sind, kann also ein Rechtsstaat sein. Das müssen wir uns merken.
Seit gestern bin ich, ein Bürger, der fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht, versucht, ein linker Aktivist zu werden. Zu Verteidigen gilt es die Demokratie und die Gerechtigkeit, die Chancengleichheit in der Politik. Gestern hat das Verwaltungsgericht zu Berlin entschieden, daß die Christlich-Demokratische Union Deutschlands an die Bundestagsverwaltung keinerlei Strafe wegen ihrer falsch oder gar nicht im Rechenschaftsbericht aufgeführten Spenden- und Schmiergelder zahlen muß. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte im Februar 2000 eine Strafe von knapp 41 Millionen Mark verhängt, das Doppelte des falsch oder nicht angegebenen Betrages, wie es seiner Meinung nach das Gesetz vorsieht.
Doch das Verwaltungsgericht Berlin sah die Sache anders. Es beharrte darauf, daß der Rechenschaftsbericht formal korrekt und fristgerecht eingereicht worden sei, daß er in sich schlüssig wäre. Im Grundsatz verfügte das Gericht: Wenn ein Parteibericht rechtzeitig eingeht und in sich schlüssig ist, dann ist er so zu akzeptieren und dementsprechend ist die staatliche Parteienförderung auszuzahlen. Da hat Laurenz Meier, Generalsekretär der CDU, allen Grund, von einem Sieg und einem "guten Tag" für die Demokratie und das Recht zu sprechen.
Aber bitteschön warum sollen dann die Parteien überhaupt ihr Vermögen offenlegen? Wenn es ihnen nun richterlich erlaubt ist, das Volk zu betrügen, falsche Angaben zu machen, illegal Gelder über schwarze Konten in ihre Kassen zu schmuggeln, warum dann noch eine Kontrolle?
Wir bilden uns so viel auf den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes ein, daß ich nun einen Aufruf an alle Sozialdemokraten, Grünen, Sozialisten und Liberalen loswerden möchte: Immer rein mit dem Geld! Betrügt! Holt euch Gelder und schmuggelt sie am Rechenschaftsbericht vorbei, oder führt sie als anonyme Spenden auf! Jeder wird wissen, daß ihr lügt, aber ihr könnt nicht bestraft werden! Dann hätten wir wenigstens einen Verfassungsgrundsatz gewahrt.
Daß Justitia im christlichen Deutschland auf dem christlichen Auge blind ist, war für mich bislang trotz einiger allgemeiner Efahrungen doch eher die Ausnahme. Dieses Urteil zeigt aber, wie parteilich und verfilzt in politischen Belangen sogar unser Rechtssystem ist. Das Urteil läßt den Glauben an den Sinn richterlicher Unabhängigkeit und Rechtstreue dahinschwinden und ist eine herbe Entäuschung jedes aufrechten Demokraten. Und um es gleich vorwegzunehmen, das würde ich bei jedem Urteil über jede Partei denken, die eine solche Schweinerei mit der Dreistigkeit begangen hätte, wie die CDU während 25 Jahren Kohlherrschaft. In einem begrenzten Rahmen war klar, daß praktisch alle Parteien rechtliche Tricks nutzen, um Gelder zu erhalten. Auch klar war die Tatsache, daß das bis zur Novellierung der Parteienfinanzierung im Jahre 1994 vom Gesetz kaum beachtet wurde. Doch der Selbstbedienungsladen geht weiter. Und es sind unsere 41 Millionen Mark, die die CDU nun für Verbrecherplakate, Vergangenheitslügen, Rentendiskreditierung und Haßcampagnen erhält, unsere 41 Millionen Mark, die nun nicht mehr gerecht unter die Parteien aufgheteilt werden, die sich wenigstens im Ansatz an Recht und Gesetz halten, sondern zurückfließen in die Kasse, aus der sie einst genommen wurden, um selbst die CDU daan zu erinnern, daß es in Deutschland gültige Gesetze gibt, an die sich sogar die CDU zu halten hat. Aber es ist ja alles halb so schlimm. Wozu hat man die Gerichte, die schon wieder in Deutschland Handlangerdienste für antidemokratische Gesetzesbrecher leisten.
Enttäuschung und Wut packt mich, wenn ich sehe, wie frechdreist die Betrüger lächeln können, wenn sie gesiegt haben. Beinahe, aber nur beinahe hätte ihre Straftat sie tatsächlich etwas sehr wertvolles gekostet, nämlich Geld. Aber nein, wie konnten wir das nur glauben. Wir leben ja in Deutschland! Deutschland, jenes Land, in dem echte Demokraten, die auf dem langen Weg zur Demokratie gekommen sind und sie heute wie kaum ein Anderer stützen, mit Hetzcampagnen von denen überzogen werden, die sich rühmen können, immer schon auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Und während sie mit der einen Hand den moralischen Zeigefinger erheben, greifen sie mit der anderen Hand tief in unsere Taschen. Das ist einer Demokratie und eines Rechtsstaates mehr als unwürdig, selbst wenn die formale Juristerei der CDU recht geben sollte, was ich stark bezweifle.
Wirklich schrecklich sind die Auswirkungen dieses Schandurteils jedoch für Jene, die mit offenen Augen durch die Welt laufen und glauben, daß unsere demokratische Verfassung uns davor schützt, eine dieser sogenannten Bananenrepubliken zu werden, selbst wenn es Skandale gibt. Wenn der Glaube an Recht und Gesetz verloren geht, wenn wir Beweisen, daß wir unfähig sind, unsere politische Landschaft selbst zu reinigen vom Unrat der Macht- und Geldsucht, dann werden die Kräfte immer stärker werden, die von Anfang an auf unseren Staat und unser Recht pfeifen. Die vom Grundgesetz installierte "wehrhafte Demokratie" kann sich nicht nur auf politische Feinde rechts und links beschränken. Sie muß auch gegen die Feinde im eigenen Lager vorgehen, die illegal Macht und Geld erlangen und vor Gericht auch noch behaupten können.
© 2001, Jens Bertrams