Sklaven der Wirtschaftsdaten

Die Angst vor dem Zusammenbruch geht um

Mittwoch, 20. Juni 2001

Für einen aufmerksamen und langjährigen Hörer des Deutschlandfunks sind die Zeichen am deutschen Konjunkturhimmel unverkennbar. Jeden Morgen fast korrigiert der Börsenbericht die Wachstumsdaten nach unten, jeden Morgen fast spürt man körperlich das drohende Gespenst der Rezession, des Zusammenbruchs. Und der Deutschlandfunk ist noch eines der Medien, die relativ sachlich über die Wirtschaftslage informieren. Andere Medien, die viel mehr gehört oder gelesen werden, machen auch noch viel mehr Angst. Wenn mir dann als einfacher Mensch der Schauer des Entsetzens über den Rücken läuft, dann muß ich mich zwingen, mich ruhig hinzusetzen und einmal zu rekapitulieren, was ich über wirtschaftliche Zusammenhänge in der Schule und über die Medien gelernt habe, und ich gestehe freimütig, daß das nicht besonders viel ist, weil die Wirtschaft nie mein Fachgebiet war.

In den Medien ist die Meßlatte für wirtschaftlichen Aufschwung oder wirtschaftlichen Niedergang immer die Höhe der Börsennotierungen, sei es der Handelswert der Währungen, oder der Wert führender Industrieunternehmen, die beispielsweise den rechnerischen Zahlenwert des Dax oder des Nemax 50 ausmachen. Aber diese Werte sind, so rufe ich mir in Erinnerung, keine verläßlichen Daten für das Wirtschaftswachstum. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als Stimmungsbarometer. Sie entstehen ja nun einmal dadurch, daß Anleger, Firmen und Aktionäre Anteile, also Aktien, kaufen und Verkaufen, weil sie in den Nachrichten gehört haben, daß das entsprechende Unternehmen gute oder schlechte Wirtschaftsdaten hat. Das heißt, daß die Medien es sind mit ihrer Schwarzmalerei, die einen großen Einfluß auf die Börsennotierungen ausüben und diese teils von ihnen gemachten Notierungen dann heranziehen, um ihre negative Prognose zu bestätigen. Damit will ich keinesfalls sagen, daß derzeit kein Grund zur Besorgnis besteht, nur sollten wir uns bei der Bewertung der Wirtschaftslage, die ja auch politische Folgen haben wird, nicht ausgerechnet an den Börsendaten orientieren. Die Währung in West- und Mitteleuropa, der Euro, bietet hierbei ein wirklich gutes Beispiel. Die Wirtschaftskraft, die Summe aller im Euroraum erbrachten Dienstleistungen und produzierter Güter ist groß und kann nicht so niedrig sein, wie sie derzeit an der Börse gehandelt wird. Aber der niedrige Kurs resultiert daraus, daß die Anleger, die Leute also, die durch Spekulation über Auf- und Abschwung der Wirtschaftsdaten der Unternehmen möglichst viel Geld machen wollen, in die europäische Währung sinkt und in den amerikanischen Dollar über Gebühr steigt.

An diesem Punkt meiner Überlegungen frage ich mich nun, was stattdessen ein verläßlicher Meßwert für Konjunktur ist. An diesem Punkt bleibt mir als Laie nichts anderes übrig, als lange darüber nachzudenken und schließlich wieder auf jene Kraft zu verfallen, die durch ihre Berichterstattung die Panik oder Aufbruchstimmung in einem Land wie keine andere Institution kontrolliert, die Medien. Nicht aber die Börsennotierungen sind es, die ich da höre, sondern die Quartalsberichte der einzelnen Unternehmen und der Bundesanstalt für Arbeit. Und hieraus eine Prognose für die Zukunft zu ziehen ist sehr mühsam. Denn was man da zu hören bekommt, ist nicht nur sehr unterschiedlich, sondern betrifft auch die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Wenn ein Unternehmen im letzten halben Jahr Gewinne erwirtschaftet hat, kann man sich fragen, ob der Trend fortgesetzt wird, oder ob nun leere Auftragsbücher eine Negativwende einleiten werden. Natürlich mag es Leute geben, die aus Erfahrung ein wenig einschätzen können, was die Bilanzen der Unternehmen für die Zukunft bedeuten, aber ich gehöre nicht dazu, und ich will es auch gar nicht versuchen. Was also tun? Wie vorbereiten auf die Rezession, das Schreckgespenst aller Bundesbürger?

Seit Wochen versuche ich, mich zu beruhigen und einfach wegzuhören, wenn wiedereinmal Negativprognosen kommen. Ich habe für mich den Entschluß gefaßt, auf Nummer sicher zu gehen und bis nächstes Jahr im Januar oder Februar zu warten, wenn die Wachstumszahlen für dieses Jahr feststehen. Und dann werden wir wissen, ob es eine Rezession gibt oder nicht. Dann erst läßt sich darüber nachdenken, was dagegen zu tun ist. Bislang handelt es sich nur um Prognosen, und die kommen gerade recht zum Anfang der Herbstwahlkämpfe in Hamburg und Berlin. Und dann gibt es da noch einen weiteren Punkt, der unbedingt bedacht werden will. Die Wirtschaftslage in der Bundesrepublik wird oft der amtierenden Regierung angelastet. Das mag zum Teil richtig sein, da die Regierung durch Steuern und gesetzliche Vorschriften unter anderem die Neigung der Unternehmer beeinflußt, in Deutschland zu investieren, ihr Geld also am Wirtschaftsstandort Deutschland auszugeben. Aber noch mehr ist eine Rezession eine Folge des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems selbst und kann daher in keinem Falle verhindert werden. Dauerwachstum ist in keinem Falle erreichbar. Wachstum hieße ja, daß jedes Jahr aufs neue der Wert aller Dienstleistungen und aller Produktion um einige Prozente steigen müßte. Wie lange kann das wohl so gehen? Daher ist eine Rezession unvermeidlich. Wenn man in einen Markt investiert, wo die Produktion anzukurbeln ist, wie beispielsweise bei Computern, dann steigt erst einmal die Produktion und die Verkaufszahlen. Wenn aber dann alle einen Computer haben, sinkt nun einmal die Nachfrage, und die Produktion und die Aufträge gehen zurück. Das ist ein stark vereinfachtes Bild, selbstverständlich, aber es zeigt doch den Kreislauf der Wirtschaft. Und natürlich kann beispielsweise die Regierung durch Steuererleichterungen dafür sorgen, daß viele Bürger mehr Geld in der Tasche haben, mehr kaufen können und die Wirtschaft damit auf Hochtouren bringen. Um aber ein dauerhaftes Wachstum zu erzeugen, müssen die Unternehmen dafür sorgen, daß die Bürger ihre Produkte auch immer wieder kaufen, ihre Dienstleistungen immer wieder in Anspruch nehmen. Der Wert dieser Produktionen und Dienstleistungen kann nicht immer weiter steigen, also kommt nach einem Konjunkturaufschwung eben auch wieder eine Rezession, das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Aber mit dieser Angst vor den vollkommen natürlichen Vorgängen in der Wirtschaft wird heute Politik gemacht. Regierungen werden bedrängt, aus dem Amt gewählt oder gestürzt, der Wahlkampf wird mit der verständlichen Angst der einfachen Menschen betrieben. Und auch die Politiker werden immer mehr zu Sklaven der Wirtschaftsdaten. Wenn sie nicht aus dem Amt gejagt werden wollen, dann müssen sie demonstrieren, daß sie etwas gegen die schlechte Wirtschaftslage unternehmen. Also werden so manches mal Gesetze beschlossen, die kosmetischen Charakter haben oder sogar unvernünftig sind, damit man sich nichts vorwerfen lassen muß. Oder die Regierung bleibt vernünftig und weiß, daß auch wieder ein Aufschwung nach einer Rezession folgt, dann wird sie wegen Unfähigkeit und Nichtstun angegriffen. Wir sind allesamt zu Sklaven der Wirtschaftsdaten geworden, Sklaven der Börsennotierungen und Wachstumsprognosen. Natürlich, es ist die Angst um die Arbeitsplätze, die uns treibt. Aber Rezession und Aufschwung, das haben wir in den letzten Jahren doch schmerzhaft erfahren müssen, haben oft keinen großen Einfluß auf die Arbeitslosenquote. Aufschwung der Unternehmen kann auch durch Rationalisierung hergestellt werden. Aber es gibt noch einen weiteren Automatismus, der hier bedacht werden will. Ohne Menschen, die arbeiten und Geld verdienen, kann es auch keinen Aufschwung geben. Eine unbarmherzige Automatisierung bringt also auch den Unternehmen nichts.

Nachdem ich das alles durchdacht und geschrieben habe, ist mir morgens immer noch unwohl, wenn der Deutschlandfunk wieder einmal vom drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch berichtet, aber ich widerstehe der Versuchung, jetzt schon Angst zu kriegen, sondern ich versuche, die Entwicklung abzuwarten und zu glauben, daß in einer sozialen Marktwirtschaft die Rezession dazugehört, wie der Winter zu einem Jahreszyklus. Und so wie der Winter manchmal von Dezember bis Februar, und manchmal von Oktober bis April dauert, so kann auch die Rezession mal kurz, mal lang sein. Ohne sie als Korrektiv, das steht fest, könnte unser Wirtschaftssystem nicht mehr lange überleben. Da wir uns aber nun einmal auf es eingelassen haben, werden wir wohl auch künftig mit Rezession und Arbeitslosigkeit leben müssen.

© 2001, Jens Bertrams


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