Wenn irgendwo auf der Welt eine Katastrophe geschieht, dann spielen sich immer dieselben Szenen ab, dann werden immer dieselben Bekundungen laut und dieselben Allgemeinplätze. "Die Welt", so heißt es dann, "wird nach dem heutigen Tage nicht mehr sieselbe sein, wie sie vorher war." Ist das wirklich so? Man hat das schon so oft gehört, und es ist gleichermaßen wahr und unwahr.
Wahr ist, daß es tausende gibt, die den heutigen Morgen in den vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr erleben werden, die gestern noch wie jeden Tag zur Arbeit in den Hochhäusern des World Trade Center, des Pentagon, oder in die Stationen von Feuerwehr und Polizei in Washington oder New York gingen, oder sich in ein Flugzeug setzten, irgendwo in Boston beispielsweise, um nach Los Angeles zu fliegen. Wahr ist auch, daß das World Trade Center nur noch auf Postkarten existiert. Auch vom Anblick her wird die Welt nicht mehr dieselbe sein.
Andererseits fürchte ich, daß es auch morgen noch Kriege, Haß und Neid, soziale Ungerechtigkeit, Hunger, Leid und Tod geben wird. In dieser Hinsicht wird sich die Welt wohl kaum verändern. Allenfalls wird die Kälte, die Kriegsbereitschaft und die Angst um eine Spur schlimmer werden.
Als ich am Dienstag, den 11. September 2001 um 15.30 Uhr von den grauenhaften Anschlägen erfuhr, durch einen Anruf, als ich nichts ahnend von einem gemütlichen Mittagessen zurückgekehrt bin, da habe ich zunächst einmal da gesessen und gar nichts gesagt oder getan. Ich habe an eine Zahl gedacht und versucht, sie in mein Bewußtsein einsickern zu lassen. An einem normalen Arbeitstag arbeiteten und lebten in dieser "Stadt für sich" rund 50000 Menschen. - Ich habe mir vorgestellt, wie viele Menschen nun angst um ihre Angehörigen haben würden, wie viele vergeblich auf sie warten würden. Ich habe überlegt, welches Leid das auslöste. Sofort danach setzte der immer gegenwärtige Gedanke ein, was denn wäre, würde ein solcher Anschlag bei uns geschehen, wäre ein Mensch, den ich kenne, Opfer einer solchen Bluttat. Ich erschrak, fühlte körperlich die Angst vor einem solchen grauenhaften Ereignis. Erst dann, erst nach dem persönlichen Erspüren, habe ich das Radio eingeschaltet. Erst dann habe ich mich entschieden, auf das Fernsehen volständig zu verzichten, und im Radio ausschließlich den Deutschlandfunk zu hören. Zu dritt haben wir dann mit kurzen Unterbrechungen bis abends die Berichterstattung verfolgt. Und jetzt, wo das alles fast einen Tag her ist, fange ich wieder an, politisch, analytisch und taktisch zu denken, ganz langsam nur.
Für mich selbst wird die Welt nach dem gestrigen Tag nicht mehr dieselbe sein. Das gilt nicht in jeder Hinsicht, aber es gilt für meine Einschätzung von Terrorismus. Was gestern in New York und Washington geschah, war eine mit grausamer generalstabsmäßigkeit durchgeführte Vernichtungsaktion. Durchgeführt nicht, oder nur zum Teil, von einer Gruppe von verrückten, übergeschnappten, nicht mehr klar denkenden Menschen, die in ihrem blindwütigen Haß alles niederreißen, was den verhaßten Feind groß und mächtig macht und symbolisiert. Nein, dies war ein Selbstmordkommando mit psychologischer und logistischer Ausstattung, wie man sie kleinen Abteilungen der PLO ode anderen nahöstlichen Splitterorganisationen auf keinen Fall zutrauen kann. Zunächst einmal mußten vier Flugzeuge entführt werden. In diesen Maschinen saßen über 260 Menschen, von denen die Attentäter wußten, daß sie mit ihnen sterben würden. Die Atentäter mußten eine Flugausbildung besitzen. Jeder Pilot, oder doch fast jeder, hätte sich bestimmt für die Hinrichtung durch einen Attentäter entschieden, wenn er die Wahl zwischen dem Absturz auf das World Trade Center und einem Kopfschuß gehabt hätte. Gestorben wäre er ohnehin, und er mußte wissen, daß er den Absturz auf keinen Fall überleben konnte. Die Terroristen haben, so heißt es heute, die Datenschreiber ausgeschaltet und fast kunstfliegerisches Können bewiesen, um ihre Ziele zu treffen. Ihr Fanatismus muß ihnen eine Festigkeit verliehen haben, die man sich nicht vorstellen kann. Dann haben sie die Angriffe auf die Türme mit einer zeitlichen Verzögerung durchgeführt. Die Rettungsmannschaften konzentrierten sich natürlich zunächst auf den ersten Turm. Und während dort der Einsatz anlief, kam der zweite Angriff, die Einsatzkräfte mußten sich aufspalten, wurden vom zweiten Angriff ebenso überrascht.
Ich glaube, es reicht. Ich habe sagen wollen, daß das nicht einfach ein haßerfüllter Terrorakt war, sondern eine - und hier gebe ich zum Beispiel Bundeskanzler Schröder recht - kriegerische Handlung. Wir werden lernen müssen, mit einer neuen Form des Terrors zu leben, einer Art des Tötens, die die letzten Skrupel den Unschuldigen gegenüber abgelegt hat, die sich gar nicht mehr die Mühe gibt, ihr Handeln unter dem Deckmantel irgendeiner Humanität zu verbergen. Das macht sprachlos und lähmt vor Angst. Denn einleuchtend ist, daß gegen diesen Terror kein Raketenabwehrprogramm hilft, auch wenn dieses Programm jetzt sicherlich kommen wird. Mit stereotypen politischen Aussagen, die kaum jemand ernst nimmt, mit solidaritätsbekundungen und zum Teil abgedroschenen Phrasen kommen wir nicht weiter. Es wird nötig sein, gegen diese Aggression mit gut überlegten, gemeinsamen Aktionen vorzugehen und auf vorschnelle Gegenschläge zu verzichten, die nur der Popularität im eigenen Land dienen können.
Und es gilt eine Frage zu beantworten, die allein helfen kann, den Automatismus des Schreckens zu brechen: Warum macht jemand so etwas. Die erste und ins Auge springende Antwort ist der Haß auf die einzig verbliebene Supermacht, auf ihre Politik, ihre "Arroganz", ihren "Imperialismus" oder "Kolonialismus", je nach Standpunkt. Um diese Supermacht ins Mark zu treffen, versetzt man ihr einen Schlag gegen Symbole und Menschen, einfache Menschen, keine Politiker, keine Militärs. Das World Trade Center war ein Symbol. Nicht, weil es bis vor kurzem das höchste Gebäude der Welt war, das war nur eine Randnotiz wert. Es war ein Symbol für die westliche Welt, ihre Wirschaftskraft, ihren grenzübeschreitenden Zusammenhalt und ihre gegenseitige Loyalität. Wer das Welthandelszentrum nur als Protzsymbol amerikanischer Großmachtsgelüste sieht, der macht es sich zu einfach. Der Stolz, daß Amerika in der Lage ist, eine bedeutende Rolle dabei zu spielen, die Welt durch ungebremsten Handel zu einigen, zusammenzuführen und Hunger und Elend zu bekämpfen, spielte in der Psyche der Menschen auch eine Rolle. Und der fünfeckige Bau am Ufer des Potomac, das Pentagon, gilt als die symbolhafte Verkörperung der Macht der USA, unter anderem solche Anschläge zu verhindern, wie sie gestern geschehen sind. Der Angriff erfolgte also gerade hier, weil es sich um Symbole von Freiheit, Handel, Sicherheit und Macht handelte. Hätte die vierte Maschine ihr Ziel getroffen, den Landsitz Camp David, wo einst Israelis und Ägypter Frieden schlossen, so wäre auch das Symbol des Friedens und des Ausgleichs getroffen worden. Auf alles, was die Welt zu einem erträglichen Ort mit möglichst wenig Chaos macht, hate es die Gruppe abgesehen. Daraus läßt sich folgern, daß diese Leute ein großes Interesse an einer chaotischen Welt haben. Das liegt bei Terroristen durchaus nahe, können sie doch ihre Weltordnung, wie immer diese auch aussehen soll, nur auf den Trümmern der alten Geselschaft und nur im Chaos errichten, natürlich mit Gewalt.
Aber all diese Überlegungen reichen nicht aus, zu verstehen, wie Menschen jede Menschlichkei verlieren können, wie sie dazu gebrach werden könen, ihr Leben zu geben für die Schaffung von Chaos und Gewalt, oder zumindest für den Versuch davon, der, so wollen wir alle hoffen, zum Scheitern verurteilt sein wird.
Daß wir gegen Ursachen nicht vorgehen können, wenn wir sie nicht verstehen, ist klar. Daß jede militärisch-politische Vorgehensweise nur beruhigen soll, im Grunde aber Makulatur bleiben muß, ist verständlich. Aber solange wir das Problem des immer grausamer werdenden Terorismus nicht an der Wurzel angehen können, solange bleiben wir sprachlos und verlieren uns in Worthülsen. Und so lange wird die Welt auch immer noch zumindest im Ansatz dieselbe bleiben.
© 2001, Jens Bertrams
Hier gibt es ein Feature zur Anschlagsserie auf World Trade Center und Pentagon