Der Verfassungsstreit

Der Bundesrat und das Zuwanderungsgesetz

von Jens Bertrams

Donnerstag, 25. April 2002

Bundespräsident Johannes Rau steht vor einer schwierigen Entscheidung, und er läßt sich Zeit damit. Seine Aufgabe ist es, zu entscheiden, ob er das Zuwanderungsgesetz unterzeichnet oder nicht, und diese Frage wird ihm Kopfschmerzen machen. Allerdings könnte es auch sein, daß er mit seiner Entscheidung bis nach den Bundestagswahlen im September wartet. Damit würde er zumindest dafür sorgen, daß das Gesetz nicht als Wahlkampfthema mißbraucht werden kann. Vielleicht hat die Bundesregierung auf eine solche Handlungsweise des Präsidenten gehofft. Es würde sie vorübergehend vor einer schwierigen Situation bewahren, denn um das Zustandekommen des Gesetzes rankt sich ein Verfassungsstreit, der noch lange nicht entschieden ist.

Als die Mütter und Väter des Grundgesetzes im parlamentarischen Rat in Bonn die Verfassung entwarfen, konnten sie natürlich nicht für alle Eventualitäten eines zukünftigen politischen alltages Vorsorge treffen. Beispielsweise legten sie im Artikel 51 des Grundgesetzes unter anderem fest, daß die Stimmen der Länder im Bundesrat einheitlich abzugeben seien. Der Bundesrat, der aus Abgesandten der Länderregierungen, nicht der Parlamente, besteht, muß den meisten Bundesgesetzen zustimmen. So ist es nur natürlich, daß ein Land seine nach der Bevölkerungszahl errechneten Stimmen im Bundesrat einheitlich abgibt, denn es gibt schließlich nur eine Landesregierung, nicht zwei oder drei. Das bedeutet, daß sich jede Landesregierung vor der Abstimmung über ein Gesetz klar werden muß, ob sie dem zustimmt oder nicht. Wenn sich aber eine Landesregierung nicht einig werden konnte, beispielsweise weil es eine Koalitionsregierung war und die Koalitionsparteien unterschiedliche auffassungen hatten, dann enthielt sich das Land bisher immer der Stimme. Das wurde nicht im rundgesetz geregelt, wurde aber zur allgemeinen Praxis.

Nun kam das Zuwanderungsgesetz. Im Bundestag wurde es von der rot-grünen Mehrheit verabschiedet, doch im Bundesrat gab es Probleme. Dort nämlich gab es eine Landesregierung, die sich nicht über ihre Meinung einig war. Brandenburg, regiert von einer SPD-CDU-Koalition, hätte sich der allgemeinen Praxis nach enthalten müssen. Doch das Zuwanderungsgesetz ist ein Prestigeobjekt der rot-grünen Regierung. Es soll den Wirtschaftsstandort Deutschland modernisieren und beim Abbau der Arbeitslosigkeit auf Dauer helfen, soll das Problem der Zuwanderung endgültig regeln. Außerdem hat man viele Monate, sogar Jahre mit der Union um dieses Gesetz gerungen, und nun wollte man es nicht im Bundesrat scheitern sehen, weil der Unionskanzlekandidat Stoiber es zum Wahlkampfthema machen und die Ablehnung für sich verbuchen wollte. Darum entschloß sich Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe, sich bei der Abstimmung im Bundesrat nicht zu enthalten. Der Stimmführer Brandenburgs, der leiter der jeweiligen Regierungsdelegation im Bundesrat, stimmte mit ja. Brandenburgs Innenminister Schönboom von der CDU stimmte mit nein, und damit hatte das Land seine Stimme nicht einheitlich abgegeben. Zum erstenmal in der Geschichte des Bundesrates beließ es der Bundesratspräsident, de berliner SPD-Bürgermeister Wowereit, nicht dabei. Er fragte den Ministerpräsidenten als Regierungschef, wie das Land Brandenburg abstimmen würde, und Manfred Stolpe stimmte mit ja. Danach stellte Wowereit fest, daß das Gesetz angenommen sei.

Für die Union war das ein Skandal, und es bewegt sich tatsächlich auf wackeligen Füßen, was dort geschah. Sicher ist, daß bislang eine politische Kultur vorherrschte, die es nahelegte, die Stimme eines Landes, in dem es keine eindeutige Meinung der Regierung gab, als Enthaltung zu werten. Diese ungeschriebene Regel ist durchbrochen worden. Die verfassungsrechtlich relevante Frage ist nun, ob der Ministerpräsident eines Landes als Vorsitzender der Landesregierung entscheiden kann, wie das Land seine Stimmen abgibt, oder ob es dazu eines Regierungsbeschlusses bedarf. Wenn der Ministerpräsident berechtigt ist, die Stimmen des Landes abzugeben, ohne einen Beschluß der Regierung herbeizuführen, dann hat das weitreichende Folgen für das Stimmverhalten künftiger Koalitionsregierungen im Bundesrat.

Das Grundgesetz in seinem Wortlaut des Artikels 51 Absatz 3 hilft uns nicht weiter. Dort steht lediglich, daß die Stimmen des Landes einheitlich abgegeben werden müssen. Es gibt auch einen Passus, der besagt, daß das Land auch nur einen einzigen Vertreter entsenden kann, der alle Stimmen des Landes im Bundesrat abgibt. Bedeutet das aber, daß er frei entscheiden kann, wie er stimmt, oder ist er nicht vielmehr an die Beschlüsse der Regierung gebunden?

Sicher ist, daß es sich beim Bundesratsmandat nicht um ein freies, sondern um ein imperatives Mandat handelt. Das bedeutet, daß die Person, die die Stimmen abgibt, sie so abgeben muß, wie das Land es bestimmt, und nicht, wie es seine eigene Meinung ist. Aber wer ist das Land?

Es könnte sein, daß sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage befassen muß, denn sollte Johannes Rau das Gesetz unterzeichnen, werden die Unionsländer, die es abgelehnt haben, gegen das Gesetz klagen. Vielleicht klagen sie auch gegen den Bundespräsidenten, denn der hat zu prüfen, ob das Gesetz nach den Regeln des Grundgesetzes zustandegekommen ist, bevor er es unterzeichnet. Natürlich spricht die Union von einem Verfassungsbruch, doch die Gelehrten sind sich keineswegs einig. Das ist auch kaum möglich, denn hier prallen zwei Konzepte aufeinander.

Die eine Gruppe sagt, daß die Stimmen eines Landes durch die Landesregierung in ihrer Gesamtheit festgelegt werden müssen. Dabei bleibt offen, ob der Beschluß zur Stimmabgabe einstimmig erfolgen muß, oder ob die entsandten Mitglieder der Landesregierung schlicht ihre Meinung sagen sollen. Auch ein Mehrheitsbeschluß, dem sich die Minderheit dann fügen muß, wäre denkbar. Wenn dem so wäre, dann wäre Ministerpräsident Stolpe nicht berechtigt gewesen, für sein Land mit ja zu stimmen, sondern nur für sich selbst. Dann hätte der Bundesratspräsident nicht die Möglichkeit gehabt, die Stimmen Brandenburgs mit ja zu werten.

Die andere Gruppe sagt, die Stimmabgabe falle in den Bereich der sogenannten Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten. Er habe das recht, diese Angelegenheit allein zu entscheiden. Für diese These spricht ein Passus aus der brandenburgischen Landesverfassung, der besagt, daß das Land nach außen vom Ministerpräsidenten vertreten wird, auch bei Stimmabgabe im Bundesrat. Ob dies aber relevant ist für die Entscheidung über das Zuwanderungsgesetz, ist weithin umstritten, denn nicht die Landesverfassungen, sondern das Grundgesetz ist bei der Stimmabgabe über ein Bundesgesetz im Bundesrat zu befragen. Es wird also am Verfassungsgericht hängenbleiben, das Grundgesetz und seinen Willen zu interpretieren.

Natürlich könnte sich Johannes Rau auch entscheiden, das Gesetz nicht zu unterzeichnen. Dann wäre es vom Tisch und müßßte zunächst im Bundestag neu beschlossen werden. Dies würde aber eine schwere Niederlage für die rot-grüne Regierung vor den Bundestagswahlen darstellen. Vielleicht tut Johannes Rau also gut daran, seine Entscheidung noch hinauszuzögern.

Ich bin in dieser Sache auf die Meinung des Bundesverfassungsgerichts gespannt, und es fällt mir schwer, mir meine eigene Meinung zu bilden. Rechtlich betrachtet finde ich das Vorgehen von Stolpe und Wowereit bedenklich, aber politisch stehe ich auf ihrer Seite. Wir werden abwarten müssen, wie sich dieser Verfassungskonflikt entwickelt. Ich hoffe aber, er wird keinen Stoff für eine Hetze der Union bieten.

© 2002, Jens Bertrams


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