Fassungslos? sprachlos? Ratlos?
Nach den Schüssen und den vielen Toten in Erfurt ringt man um Antworten
Dienstag, 30. April 2002
Die immer gleichen Worte sind zu hören: Bluttat, Massaker, Amoklauf. Die
immer gleichen Leute verlangen Verständnis für die Situation des Täters,
die immer gleichen Leute sind wütend über den sinnlosen Tod der Opfer.
Und mittendrin eine Stimme, die sagt, was ich schon seit Tagen denke:
"Wir sind sprachlos, und wir müssen doch versuchen, unsere Trauer in
Worte zu fassen." Es ist Bernhard Vogel, der Ministerpräsident von
Thüringen, der das sagt, und Bundespräsident Johannes Rau stimmt ihm zu.
Geschehen ist, was nicht ins Raster und ins Konzept paßt, was nicht so
einfach zu erklären ist. Geschehen ist, was sich nicht einfach
parteipolitisch ausschlachten läßt, obwohl es alle versuchen. Ein
neunzehnjähriger Mann, der vor ein paar Monaten wegen Urkundenfälschung
von der Schule verwiesen wurde, nachdem er sich selbst einen
Krankenschein ausgestellt hatte, ging mit einer Pistole bewaffnet in
seine Schule und schoß auf alle Lehrerinnen und Lehrer, die er sah. 17
Menschen, darunter zwei Schülerinnen, ein Polizist und der junge Mann,
verloren ihr Leben.
Natürlich fragen sich alle, warum das geschehen konnte, welche
Institution da versagt hat. Die Schuldigen sind schnell ausgemacht. Da
ist der Leistungsdruck in der Schule, dem der Junge nicht gewachsen
schien, die zu klein geratene Statur, die ihn aus dem Handballteam
ausscheiden ließ, die Wut, die sich anstaute, nachdem Lehrer über seine
Witze und Anzeichen von aufsessigkeit und Aggression nicht lachten. Da
sind die Eltern, die sich offenbar nicht besonders um ihn kümmerten, und
denen er von seinem Schulverweis nichts sagte, um nicht als Versager
dazustehen, und da sind die Computerspiele und Gewaltvideos und die
Heavy-Metal-Musik, die er im Überfluß konsumiert haben soll. Sofort
wurden Rufe nach Verbot von bestimmten Computerspielen laut, nach Verbot
bestimmter Videos und nach Einschränkung der Internetfreiheit. Als ob
damit das Problem gelöst werden könnte. Wenn man legal nicht an diese
Dinge herankomt, dann eben illegal. Das Problem im deutschen Waffenwesen
sind ja auch kaum die legalen, vielmehr die illegalen Waffen. Schuld
sind auch natürlich die Eltern und Bekannten im Schützenverein, die
nicht gemerkt haben, daß der Junge sich aggressiv entwickelte. Dabei hat
er praktisch keine Auffälligkeiten gezeigt. Der allseits bemühte Spruch
von der "heutigen Jugend", die so verdorben sei, zieht nicht bei Robert,
dem Jungen, der am Freitag siebzehn Menschen erschoß.
Und in dem ganzen Mediengetümmel von Privatsendern, die sich mit
Sensationen von Blutrausch und Massakerphantasien überschlagen, fand am
Sonntagabend die Sendung "Sabine Christiansen" statt. Es war eine
Wohltat, einmal eine Sendung zu sehen, wo man sich gegenseitig ausreden
läßt, wo trotzdem ausführlich unterschiedliche Meinungen aufgeführt
werden, und wo man sich einige der Probleme im Zusammenhang mit den
Toten in Erfurt vornimt. Schülervertreter forderten mehr Mediation an
Schulen, die Schüler ernster zu nehmen und sie gar nicht erst in die
Kategorie "Gewinner" und "Verlierer" einzuordnen, indem man ihnen
aufzeigt, daß es keine Schande ist, weniger Leistungen als andere
Schüler zu erbringen. Aber reicht das auch aus? Gut war, daß sich alle
maßgeblichen Persönlichkeiten, über die Parteigrenzen hinweg, gegen eine
verbarrikadierte Schule, gegen Polizei oder Privatpolizei auf dem
Schulhof ausgesprochen haben, sondern für einen offenen Umgang
miteinander im Verhältnis von Lehrern, Schülern und Eltern. Aber damit
allein sind wir auch nicht weitergekommen.
"Man kann auch Rockmusik hören, ohne jemanden umzubringen", sagte ein
Schülervertreter, als sich die geladenen PolitikerInnen bei der Sendung
am Sonntag allzusehr auf die Videos, Computerspiele und musikalischen
Vorlieben des jungen Mannes stürzten. Damit hat er zweifelsfrei recht.
Ein Verbot dieser Dinge würde die Situation nicht verbessern.
Wieder wird an Symptomen herumgefeilt. Das Waffenrecht soll erneut
verschärft, vielleicht sogar die Volljährigkeit wieder auf 21
heraufgesetzt werden. Aber es gibt auch andere Stimmen, die eben
fordern, Schüler ernst zu nehmen. Der Junge Mann hatte einem Lehrer
gegenüber einmal gesagt: Irgendwann einmal wird die Welt von mir
sprechen. Das sagte er unter dem Eindruck der Tatsache, daß sein Äußeres
nicht beängstigend war, daß seine Leistungen nicht überragend waren.
Vielleicht hätte es nicht der ganzen Welt bedurft, um ihn
zufriedenzustellen, sondern nur eines aufmerksamen Menschen, wie dieses
Lehrers beispielsweise.
Alle Versuchen, solche Taten künftig vollständig zu verhindern. Kaum
einer sagt die Wahrheit, daß es nämlich eine hundertprozentige
sicherheit nicht gibt. Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, daß
Computerspiele und Gewaltvideos die Gewaltbereitschaft erhöhen. Es gibt
andere Wissenschaftler, die sagen, daß beispielsweise Computerspiele die
Gewaltbereitschaft umlenken und abbauen, weil man seine Aggressionen am
Bildschirm auslebt und sich besser fühlt. Ein bekannter amerikanischer
Forscher hat einmal gesagt: Unter bestimmten Umständen können bestimmte
Filme, Videos und Computerspiele auf bestimmte Kinder
Aggressionsfördernd wirken, während dieselben Filme und Spiele auf
dieselben Kinder unter anderen Umständen, oder auf andere Kinder nicht
wirken, oder andere Filme und Spiele auf dieselben Kinder unter
denselben oder andersgelagerten Umständen. Und auch den Umkehrschluß
ließ er zu, daß nämlich Filme und Spiele unter bestimmten Umständen bei
bestimmten Kindern Agressionen abbauen können. Die Hauptaussage dieser
Sätze ist nach meiner Ansicht, daß man keine Pauschalisierung vornehmen
kann.
Weil Antworten so schwer zu finden sind, gibt es natürlich auch die, die
ich im Usenet las. Die Regierung und ihre kriegstreibende Politik sind
schuld, weil die Gewalt in den Köpfen bleibt und Gewalt als legitim
angesehen wird. Meiner Ansicht nach steckt im letzten Halbsatz ein
körnchen Wahrheit, der Krieg in den Köpfen, die Gewalt als legitimes
Mittel, muß abgebaut werden und schließlich verschwinden. Daß aber
unsere Regierung mit ihrer Politik direkt für die Schüsse in Erfurt
verantwortlich zu machen ist, halte ich allein schon deshalb für weit
hergeholt, weil der Junge nach allem, was wir wissen nicht besonders
politisch war. Vielleicht interessierten ihn die von der Verfasserin
dieser genannten Meinung zitierten Bomben auf Jugoslawien und
Afghanistan nicht einmal, wer weiß es schon?
Die Ratlosigkeit bleibt, und wir sollten uns nicht schämen, sie
zuzugeben. Auffällig an Robert S. war seine Unauffälligkeit. Wenn er
aber nicht ins Raster paßt, daß wir uns von Amokläufern und jugendlichen
Gewalttätern gebastelt haben, dann muß der Ratlosigkeit ein ruhiger
Dialog folgen, an dem alle Beteiligt sind: Lehrer, Eltern und Schüler.
Ein Dialog, der sich nicht auf Sicherheitsfragen und das Beschwören der
Werteordnung beschränkt, sondern der auch konkrete Hilfe verspricht und
gleichzeitig Anstöße sammelt, wie man den immer stärker werdenden
Ellenbogentendenzen in unserer Gesellschaft begegnen kann. Wer
Gewalttäter nur wegschiebt und ächtet, ohne sie sich anzusehen, und wer
Kinder nur vor den Fernseher setzt, ohne mit ihnen über das zu reden,
was sie sehen, wer also sie sich selbst überläßt, der trägt
Mitverantwortung an Gewalt und Haß in der Gesellschaft. Ich glaube, daß
der Dialog der Schlüssel zur Eindämmung der Gewalt ist, nicht das
rigorose Verbot. Wenn Kinder oder Jugendliche Actionfilme sehen, dann
wäre es wünschenswert, wenn Erwachsene sich die Zeit nehmen würden, die
Filme mit den Kindern zu schauen und darüber zu debattieren, sie zu
fragen, was ihnen an den Inhalten gefällt und warum. Aus eigener
Erfahrung weiß ich, daß dabei manchmal interessante Gespräche
zustandekommen.
© 2002, Jens Bertrams
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