Schaut man derzeit in unser westliches Nachbarland, die Niederlande, dann entdeckt man, was man aus deutscher Sicht naiv einen "Sturm im Wasserglas" nennen könnte. Vor drei Wochen erst trat die amtierende Regierung ab, nachdem der Politik und der Militärführung Fahrlässigkeit und Ungereimtheiten beim Fall der Moslemenklave Srebrenica an die Serben im Jahre 1995 vorgeworfen wurden. Respektvoll zog man vor einem Regierungschef den Hut, der seinen eigenen Hut nahm, ohne daß ihm direkte Mitschuld am Massenmord in Srebrenica vorgeworfen wurde. Ihm und seiner sozialdemokratischen Partei hilft das allerdings wenig, sie sinkt ständig in den Meinungsumfragen vor der am 15. Mai anstehenden Parlamentswahl.
Und jetzt auch noch Pim Fortuyn. Am Montagabend, dem 6. Mai, wurde der in Deutschland als "Rechtspopulist" bezeichnete Newcomer in der Niederländischen Politik in Hilversum von einem Mann erschossen, über dessen Identität und Motive es unterschiedliche Gerüchte gibt. Und wer bitte war der Mann, der da auf einem Parkplatz eines großen Medienzentrums erschossen wurde?
Pim Fortuyn war soziologieprofessor, 54 Jahre alt und eine der interessantesten Persönlichkeiten der holländischen Politik. Ich erlebte ihn zum erstenmal im März bei einer sogenannten "Lijsttrekkersdebat", einer Art "berliner Runde" in Holland. Da war sein Stern allerdings längst aufgegangen. Mit einer Gruppierung Namens "Leevbar Rotterdam" hatte er über 35 Prozent bei den Gemeinderatswahlen in der großen Hafenstadt erreicht. Seine Parolen klangen einschneidend und hart. Er wollte das schengener Abkommen aufkündigen, das die offene Grenze in Europa und die europäische Einwanderung regelt, er wollte das Asylrecht streichen, und auch das Diskriminierungsverbot. Massiv wehrte er sich gegen die Political Correctness von Wim Kok, der die Probleme im Lande nicht anpacke. Seine Äußerungen über den Islam waren beleidigend. "Ich hasse den Islam nicht", sagte er, "aber er ist eine rückständige Kultur." Als die inzwischen auch landesweit organisierte und unter dem Namen "leevbar Nederland" zu den Wahlen am 15. Mai zugelassene Partei sich öffentlich von seinen härtesten Äußerungen distanzierte, verließ er die Partei und schrieb sich mit einer eigenen Liste zu den Wahlen ein, der "Lijst Pim Fortuyn". Mit seiner Aussage, daß er dazu bestimmt sei, der nächste Ministerpräsident der Niederlande zu werden, mischte er die eher langweiligen, wenn auch artig argumentierenden, eher braven Kandidaten der anderen Parteien auf. Seine Aussagen waren knallhart, spritzig vorgetragen, mit Gestik und Mimik untermalt und trafen offenbar, was niemand im Ausland für möglich gehalten hätte, eine unterschwellige Strömung in den Niederlanden, jenem doch sonst so liberalen Land zwischen Nordsee und Rheinland.
Wer sich in den Niederlanden ein wenig auskennt, der weiß, daß eine von bösen zungen so genannte "rassistische und arrogante" Strömung immer existiert hat. Wie in fast jedem Land herrschen auch dort Ressentiments gegen alles Fremde und alles bedrohliche. Der Unterschied ist, daß diese Gruppierungen die Spielregeln der Demokratie anerkennen. Deshalb ist es falsch und eine Panikmache, wenn jetzt vor den Rechten in Holland gewarnt wird. Zu einer nationalistisch ausgerichteten Regierung wird es in den Niederlanden nicht kommen, ein zweites Österreich oder Italien wird es nicht geben, nicht einmal mit Pim Fortuyn wäre das so gekommen. Die Liste erreicht nach den jüngsten Umfragen 12 Prozent der Stimmen, vielleicht etwas mehr nach dem Tode ihres charismatischen Führers, aber eine Gefahr für die Demokratie ist das nicht, auch wenn das in ganz europa befürchtet wird. Doch man muß mehr über das Demokratieprinzip in den Niederlanden verstehen, um das zu begreifen. Das Parlament in Den Haag hat durchaus ein Eigenleben, die Fraktionen der Regierung stimmen durchaus auch mal gegen die eigenen Ministerentwürfe von Gesetzen, lassen sich eigene Entwürfe einfallen und geraten nicht in die Gefahr, Stimmvieh der Regierung zu werden. Fraktionszwang ist selten. Auch muß man wissen, daß die Größte Partei der Niederlande bislang 29 % der Stimmen hatte, die sozialdemokratische PVDA, und daß es in der zweiten Kammer, dem eigentlich entscheidenden Parlament, viele ähnlich große Parteien gibt. meinungsvielfalt ist dort selbstverständlich, während sie uns hier Angst macht. Jede Verschiebung im festgefügten deutschen Parteiensystem wäre eine Katastrophe, ein Angriff auf die Demokratie und ließe Befürchtungen über Weimar aufkommen. Bei unseren liberalen westlichen Nachbarn gibt es das alles nicht. Auch die Debatten im Parlament sind aufregender, denn es gibt Frage und Antwort, Rede und Gegenrede, offene und unvorbereitete Diskussionen. Eine Parlamentsreform des Bundestages in diese Richtung, wie sie die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher in den achtziger Jahren erstreiten wollte, kam in Deutschland nie zustande.
Eine Partei mit 12 oder 15 Prozent der Stimmen ist also in Holland längst keine Gefahr für die Demokratie, und das glaubt auch dort keiner. Aber sie mischt das bisherige Parteienspektrum kräftig auf. Pim Fortuyn erhielt Applaus, als er sagte, er wolle nur noch Katastrophenflüchtlinge aus Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Dänemark aufnehmen. Doch dabei wirkte Fortuyn in keiner Weise platt und plump, sondern intelligent und charismatisch, anziehend, beredsam und erfrischend provokativ. Das machte ihn gefährlich, und das machte seinen Gegnern angst. Unf offenbar gab es einen, der nicht mehr auf das Modell der Demokratie im Land von Maas und Waal vertraute und zur Waffe griff. Damit erst ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß die Partei bei den am Mittwoch anstehenden Wahlen einen Sympathieerfolg erringt, der die anderen Parteien zwingen könnte, mit ihr zu koalieren.
Pim Fortuyns Stern war rasant aufgestiegen. Das verdankte er auch der Tatsache, daß seine Parolen keineswegs ausschließlich rechts waren. Seine offen zur Schau gestellte Homosexualität, das Loblied auf die gesellschaftlichen Freiheiten, seine offene Sympathie für die Juden und Israel passen nicht ins so gern faschistisch dargestellte Bild, das sich das Ausland von ihm macht, ohne dabei die Eigenheiten der niederländischen Politik zu berücksichtigen. Es kann vermutet werden, daß seine Partei in vier Jahren längst nicht mehr so viele Stimmen bei den Wahlen erringen wird, denn sie war ganz auf den charismatischen "Professor Pim" ausgerichtet. Schon eine Verschiebung der Wahl um ein bis zwei Monate hätte vermutlich bewirkt, daß die Partei in den Umfragen gesunken wäre, denn sie gewann allein durch Fortuyn Gestalt. Es spricht für das niederländische Staatsverständnis, daß die Wahlen nicht verschoben werden, denn die Verfassung sieht nun einmal nur eine Amtszeit von vier Jahren für Parlament und Regierung vor, und die ist abgelaufen. Obwohl es keinen Verfassungsgerichtshof wie in Deutschland gibt, der die Regierung bei Verfassungsbruch schelten könnte, hat sie die Verschiebung der Wahl nicht durchgeführt. Sie vertraut offenbar nach wie vor auf das Funktionieren der heimischen Demokratieform und will sie nicht durch eigene verfassungswidrige Entschlüsse aushebeln. Ich wünschte mir, wir hätten in Deutschland so aufrechte Politiker. In den Niederlanden selbst wird die Regierung eher kritisch beäugt, allerdings aufgrund ihrer auf die Mitte ausgerichteten Politik des Ausgleichs zwischen allem und jedem. Das machte die Protestbewegung des Pim Fortuyn groß, die durch die Wahlen in einer Woche Gelegenheit erhalten wird, sich zu festigen und zu profilieren.
Nein, Fortuyn, der sich übrigens gern mit Edmund Stoiber verglich, und von dem man in Deutschland bis zu seinem Tode rein gar nichts wußte, war kein Faschist im üblichen Sinne. Er war gerade durch seine Intelligenz, seine provokante Art, tatsächliche Mißstände aufzudecken und mit Radikalforderungen zu versehen, sehr gefährlich. Die Demokratie aber hätte er nicht gefährdet, und er wäre auch nicht an einer niederländischen Regierung beteiligt worden. Sein gewaltsamer Tod aber ist ein SChock und eine gewaltige Erschütterung. Es ist der erste politische Mord in den Niederlanden seit undenklichen Zeiten, und niemand, absolut niemand hat damit gerechnet, mit Ausnahme übrigens von Pim Fortuyn selbst. In einem Interview, das der niederländische Weltrundfunk verbreitete, hatte er gesagt, daß die Schuld für seinen Tod, falls es denn zu einem Anschlag auf ihn komme, die Regierung Kok trage, die ein Klima der verwaschenen Positionen und damit der Unzufriedenheit zugelassen habe, die aber ihn als andersdenkenden Politiker nicht schütze. Das wird, sollte der Wahlkampf, der derzeit ruht, noch einmal aufgenommen werden, ein schlagendes Argument seiner Partei sein. Dabei ist klar: Sachlich ist der Regierung kein Vorwurf zu machen. Polizeischutz hatte Professor Pim abgelehnt.
Klar ist auch, daß mit Fortuyn nicht nur ein gefährlicher Rechtsaußen der niederländischen Politik, sondern auch eine figur verschwindet, mit der sich die demokratische Linke hätte auseinandersetzen sollen, um ihre eigenen Krallen wieder zu schärfen und eigene Positionen klar zu beziehen. Die Fortuyns werden die Rechten von morgen sein. Nun bleibt der Linken in ganz Europa diese auseinandersetzung erspart, die nicht mit Schlagworten, sondern mit Sachargumenten und Biß geführt hätte werden müssen, und in den Niederlanden übrigens auch geführt wurde, was dazu führte, daß die Partei Grünlinks, deren Spitzenkandidat ebenfalls recht auffallend ist, auch in den Umfragen ständig zunimmt, weil eine echte Auseinandersetzung erfolgt. Durch den Tod Fortuyns aber werden wir uns wieder für eine Weile in Sicherheit wiegen können, bis der nächste aufsteht, der nicht erschossen wird und uns alle unerwartet trifft und zersplittert und eingeschlafen vorfindet. Deshalb ist der Fall Fortuyn so wichtig für ganz Europa.
© 2002, Jens Bertrams