Meine Neujahrsansprache

31. Dezember 1999

Liebe Leserin, lieber Leser!
"Leben ist das, was du daraus machst", habe ich vor einer Weile unter einer E-Mail als Signatur gelesen. Der Satz gefiel mir. In einer Zeit, in der man immer mehr auf die Regierung schimpft, die Steuern verteufelt, die Obrigkeit und die Wirtschaftsgroessen fuer bestechlich haelt und sich ganz allgemein als das arme Opferlamm unumstoesslicher Umstaende begreift, bietet dieser Satz einen Ausweg. Sicher, er ist nicht bequem, denn er nimmt den, der ihn hoert, in die Pflicht, selbst etwas an seinem Leben und den Umstaenden zu veraendern, die ihm nicht gefallen.

Natuerlich ist eine solche Einflussnahme nur begrenzt moeglich. Gegen eine bestimmte Politik kann man nur durch ein entsprechendes Wahlverhalten etwas tun, und zwar erst, wenn die Wahlperiode abgelaufen ist. Gegen Kriminalitaet muss man sich grossenteils auf die Polizei verlassen, und das allgemeine Gefuehl, ein Opfer zu sein, wird man gar nur durch eine Aenderung der Einstellung los.

An einem Tag, an dem viele Menschen ueber das vergangene Jahr nachdenken und es in irgendeiner Form an sich vorueberziehen lassen, lohnt es sich, ueber die Einstellung nachzudenken, die einen scheinbar so hilflos macht. Fuer die Meisten von uns gab es in diesem Jahr bestimmt schoene und schlechte Ereignisse, Freude und Trauer, Zufriedenheit und Missmut. Sieht man aber ueber den eigenen Tellerrand hinaus und schaut sich bei anderen Menschen um, dann stellt man fest, dass es ihnen - welch eine Binsenweisheit - ganz aehnlich geht. Doch wenn man so an die Katastrophen des vergangenen Jahres zurueckdenkt - die Erdbeben in der Tuerkei, die Ueberschwemmungen in Asien, die Wirbelstuerme in Amerika und Europa beispielsweise -, dann mag es einem aufgehen, dass es viele geben wird, die das Schicksal schlimmer getroffen hat als die meisten von uns. Aber man muss nicht immer so weit von sich wegschauen. Auch in der eigenen Verwandschaft und Bekanntschaft gibt es allzumeist Menschen, die sehr krank oder sehr einsam sind, und auch diese Menschen haben oft nicht gerade ein freundliches Los.

In meinem noch recht jungen Leben habe ich feststellen duerfen, dass das recht alte Sprichwort zutrifft: "Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch wieder heraus". Wenn ich mit einer lebensbejahenden Einstellung durchs Leben gehe, dann kann ich mit den Schwierigkeiten, die nun einmal zu diesem Leben gehoeren, viel besser umgehen. Fuer mich ist es eine Selbstverstaendlichkeit, dass gerade in einem demokratischen Land nicht jeder mit allem zufrieden sein kann, was die Regierenden beschliessen. Fuer mich kommt es aber darauf an, dass es wirklich noch moeglich ist, schoene Dinge im Leben zu erleben und zu geniessen. Am Jahresende erinnere ich mich oft daran, dass ich selbst bis vor einigen Jahren ein echter Miesepeter war. Das aenderte sich erst, als ich es schaffte, dem, was in meinem Leben unbestreitbar positiv war, seine Bedeutung zuzugestehen.

Mein Rat an Sie und Euch ist daher: Wenn nun morgen die Benzinpreise noch mal steigen, obwohl sie das vorgestern auch schon taten, oder wenn zwar das Kindergeld erhoeht wird, Sie aber leider kein Kind mehr sind, dann nehmen Sie es nicht so schwer. Wir haben nur ein Leben, und nicht jeder von uns kann immer alles haben, das waere langweilig.

Mein zweiter Rat: Wenn man an den Umstaenden, die einen aergern, irgendetwas aendern kann, dann sollte man das tun, ohne sich resigniert in den eigenen Bau zu verkriechen. Je weniger Menschen sich an der politischen Willensbildung beteiligen, desto schlechter wird die Politik, denn sie spiegelt nicht die Meinung der Waehler wieder. Und je schlechter die Politik ist, desto mehr Staats- und Politikverdrossenheit gibt es, und desto unzufriedener sind die meisten Leute. "Leben ist das, was du daraus machst", heisst der Satz, und er gefaellt mir immer noch. Er sagt mir, dass ich Moeglichkeiten habe, einen Einfluss auf das zu nehmen, was mir nicht passt. Und wenn er noch so gering ist, sollte uns diese Aussicht doch bestaerken, mit einem gewissen Optimismus ins neue Jahr zu gehen.

Ich wuensche allen Leserinnen und Lesern dieser Seiten ein gesundes und gutes Jahr 2000. Und bitte verzeihen Sie mir diese Silvesterschwafelei und Altklugheit.

© 1999, Jens Bertrams

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