Macht den Koffer auf!

Von Systemen, Skandalen und übertriebener Aufregung?

24. Januar 2000

Augenblick mal. Gut: Wir wissen jetzt, daß Kohl am Rechenschaftsbericht vorbei einige Millionen für den Wahlkampf eingetrieben hat. Wir wissen jetzt, daß das auch in den Landesverbänden gängige Praxis war, und wir wissen jetzt, daß Kohl persönliche Verbindungen wichtiger waren, als die unbedingte Einhaltung formeller Bestimmungen. Und? Warum regen wir uns darüber auf? - Ich bitte Sie, meine lieben Leserinnen und Leser, ist Ihnen das etwa neu? - Wo haben Sie denn in den achtziger und neunziger Jahren gelebt? Offensichtlich nicht in der Bundesrepublik Deutschland.

Das in den letzten Wochen so oft beschworene und genannte System Kohl - man wird das Wort bald zurecht nicht mehr hören können - war doch ein allgemein anerkannter Regierungsstil, der es erlaubte, daß Kohl das Wohl der Partei CDU mit dem Wohl der BRD gleichsetzte. Der Regierungsstil erlaubte es, daß der Kanzler sich als Bollwerk seines Landes gegen Kommunismus und Sozialdemokratie verstand! In diesem Land lebten wir, und das haben ALLE gewußt. Väterlich-jovial regierte der überlebensgroße Kanzler der Einheit über die Stimmen von Bundesregierung, Parteivorstand und anderen Kontrollgremien hinweg, und der Bundestag wurde über das verfassungswidrige Instrument des Fraktionszwangs zur Abstimmungsmaschine des Patriarchen.

Aber es war nicht so, daß Kohl das jemals verschleiert hätte, im Gegenteil. Er liebte es doch, sich als gnädiger Landesvater zu präsentieren, und nicht umsonst hat er sich den "Enkel Konrad Adenauers" genannt. Nun werden sich die Jüngeren unter Ihnen bei dem mangelnden Geschichtsbewußtsein der heutigen Zeit vielleicht nicht mehr an Konrad Adenauer erinnern, aber der "Alte", und ich kenne ihn selbst nur aus der Geschichte, verstand es immer wieder, seine Ansichten auch gegen den Widerstand seiner eigenen Partei durchzusetzen.

Jetzt, nachdem Kohl an seiner Art festhält, daß ihm "persönliches Vertrauen" wichtiger in seinem Leben ist als "die unbedingte Einhaltung formaler Regeln", bekomt es die CDU mit der Angst zu tun. Jetzt plötzlich, wo es um Wählerstimmen gehen könnte, da löst sich die CDU von Helmut Kohl, tut sich aber damit schwer. Und statt rückhaltlos aufzuklären, wechselt sie lediglich die Personen aus, distanziert sich langsam von ihrem Helden. Man räumt ein, es seien einige Fehler gemacht und einige Fehlentwicklungen zu spät erkannt worden, arrogant wird verschwiegen, wie viel die jetzige Parteiführung wußte, und alle sind nur auf Schadensbegrenzung statt Aufklärung aus. Und soll ich Ihnen was sagen? - Wir werden auch diesmal mitspielen, fast alle. Die CDU wird bei den kommenden Wahlen vielleicht einige Wählerstimmen verlieren, aber bald ist sie wieder im Aufwind, so ist es doch, und das, ohne wirklich mit ihren Machenschaften aufgeräumt zu haben. Wenn heute die Medien von einer Zerreißprobe für die Union reden, dann ist das Quatsch, und die Journalisten, die es schreiben, glauben selbst nicht daran. Das System Kohl funktioniert nämlich, wie in der Partei, so auch im Lande. Die Union kann sich das alles leisten.

Es soll mir keiner sagen, er oder sie habe nicht gewußt, wie das mit Kohl und der CDU war und ist. Nicht nur, daß die Flickaffäre in den achtziger Jahren ein gutes Lehrstück war, wo wir das alles schon einmal hätten lernen und in unseren Köpfen behalten können, sondern es gab ja auch aktuellere Hinweise. Der Spiegel deckte einige der jetzt auf den Tisch gelangten Machenschaften schon im Juni 1997 auf, aber während der Herrschaft des großen Kanzlers wollte es keiner hören. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, wie viele ihn immer wegen seiner Provinzialität verlachten, aber allein sein parteiinterner Putsch gegen Rainer Barzel 1973, der auch schon mit Geld zu tun hatte, hätte klar machen müssen, was für ein machtbewußter, oder lassen Sie es mich anders sagen, machtbesessener Politiker Helmut Kohl ist.

Als ihm im Dezember 1999 in der ARD die Frage gestellt wurde, ob er denn nicht wisse, daß das Grundgesetz eine öffentliche Rechenlegung der Parteien vorsieht, da antwortete er, daß er einen Fehler gemacht habe, aber daß es sich doch gar nicht um so viel Geld gehandelt habe, und es könne doch nicht angehen, daß man jetzt seine Leistungen als Bundeskanzler so in den Schmutz ziehe, man müsse doch die Relationen beachten. Außerdem rechtfertigte er sich damit, daß er das Geld den Parteigliederungen in den neuen Ländern gegeben habe, die "mit dem Rücken zur Wand" standen angesichts der Übermacht des Kommunismus und der SPD, und außerdem habe ja auch - was keiner wisse - der DGB gegen Ihn mobil gemacht, und da hätte er sich doch wehren müssen. Kohl, der Machtpolitiker, der Übervater eines demokratischen Staates, sieht sich nach einem winzigen Eingeständnis in der Opferrolle.

Und jetzt versuchen alle, sich von ihm zu befreien, ihn zu beschimpfen, ihn zu kritisieren, er habe der Partei Schaden zugefügt. Die CDU glaubt, daß sie mit der Distanzierung von ihrem ehemaligen Ehrenvorsitzenden allein die Gunst der Wähler zurückgewinnen wird. Und wissen Sie was: es wird ihr gelingen. Wir Deutsche sind vergeßlicher und ungeübter im Ausüben der Demokratie, als es die Bürger der DDR seinerzeit im Herbst 1989 waren, die sich mit dem bloßen Austausch von Personen nicht zufrieden gaben. Das System Kohl beruht auf einer Schwäche der Deutschen, die sich immer eine Art Führer wünschen, der die Probleme auch mal unkonventionell und im Widerspruch zu starren Regeln angeht. Das ist die Ausnahme, die wir Deutschen uns von unserer Regelhörigkeit gestatten, uns einen Mann zu wünschen, der unseren Staatskarren auf unkonventionelle Weise aus dem Dreck ziehen kann, heiße er nun Hindenburg, Adenauer oder Kohl. Wenn also nun die CDU-Spitze ihre kleinen Fehler eingesteht, ohne sich beim Wähler, der doch der Souverän ist, zu entschuldigen, ohne wirklich mit ihrer Vergangenheit aufzuräumen, dann wissen wir alle, wie dieser Skandal ausgeht. Die CDU wird etwa fünf Millionen Mark aus der Portokasse an die Staatskasse zurückzahlen, dann wird sie sich, wie schon nach dem Rückzug Kohls vom Ehrenvorsitz zu beobachten, wie eine geläuterte und revolutionierte Partei gebärden, die jetzt endlich wieder ihren angestamten Platz als Regierung Deutschlands einnehmen kann. Und wir? Wir werden uns daran erinnern, wie gut doch die CDU mit Wirtschaftspolitik - was ja heute das Einzige ist, was noch zählt -, Finanz- und Rentenpolitik umgehen kann, und wir werden sie wieder wählen. Das hat immer funktioniert und wird immer funktionieren.

Doch halt! In Sachsen schaffte es die SPD, weniger als 10 Prozent der Wählerstimmen zu erhalten. Es gäbe also doch eine Möglichkeit, mit der Sie, ja Sie, liebe Leserin, lieber Leser, der CDU zeigen könnten, daß es so nicht geht, nicht mit Ihnen, dem Souverän.

© 2000, Jens Bertrams

Ein Lesetip: Die Zeit vom 20. Januar brachte einen hervorragenden Kommentar.

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