Sie sind der Meinung, das war ... SPITZE!

Erinnerungen an die siebziger Jahre

11. Februar 2000

Es gab eine Zeit ohne Homecomputer, ohne Windows, ohne Mouse-Doppelklick. Es gab eine Zeit vor dem ersten Game-Boy, vor der ersten Boy-Group, vor dem ersten Frühstücksfernsehen und vor dem Sendebeginn von RTL Plus. Und das ist im Grunde genommen noch gar nicht so lange her, nur schlappe zwanzig bis dreißig Jahre.

Ich las gestern morgen einen Bericht in der Zeit, in dem beschrieben wurde, wie viele Menschen sich heute, so etwa im Alter zwischen 25 und 35 Jahren, gern an ihre Kindheit und Jugend erinnern. Und ich habe immer gedacht, ich sei der einzige Mensch, der bei der Erinnerung an die siebziger Jahre diese Nostalgie fühlen würde, dieses unwiderstehliche Bedürfnis, mich zu erinnern, noch einmal in eine Welt einzutauchen, die verständlicher war, nicht ganz so schnell, nicht ganz so fremd, nicht ganz so desillusionierend, nicht ganz so ohne soziale Verantwortung. Dabei war sie nicht ohne Probleme. Hier ein paar Sätze, die viele nicht vergessen werden:

"... Sie halten sich für eine auserwählte kleine Elite, die ausersehen sei - so schreiben Sie -, die Massen zu befreien. - Sie irren sich! Die Massen stehen gegen Sie! ..." (Bundeskanzler Helmut Schmidt nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer durch ein Terrorkommando der RAF vor dem Deutschen Bundestag, 8. September 1977).

Terrorismus, erste Umweltschäden, Abtreibungsdebatte, Rentendebatte, Ost-West-Konflikt, alles Dinge, mit denen man sich auseinandersetzte. Radikalenerlaß und Atomkraftwerke brachten damals noch Leute auf die Straße, heute bringen Parteispendenskandale und Dauerarbeitslosigkeit nur noch die Menschen zur Verzweiflung und führen zur Politikverdrossenheit. Die Zeit damals war politischer, und das merkte ich, obwohl ich ganz klein war und nicht viel von meiner Umwelt mitbekommen habe.

Und es gab auch richtig gute und tolle Dinge, die unverwechselbar dazugehören. Nichts vermittelte sie so gut wie das Fernsehen. Es gab richtige Rituale. Viele saßen Samstagsabends vor dem Fernseher und hörten:

"Aus dem Studio 4 des Hessischen Rundfunks überträgt nun das deutsche Fernsehen die öffentliche Ziehung der Gewinnzahlen im Deutschen Lottoblock für die siebente Ausspielung. - Der Aufsichtsbeamte hat sich vor dieser Sendung vom ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes und der 49 Kugeln überzeugt." Und dann schnarrte die Lottomaschine los, zu einem gemütlichen Schlagerliedchen, natürlich instrumental.

Und die Schlager überhaupt!! Was waren das damals noch für Texte! Noch heute grölt man "Theo, wir fahr'n nach Lodz", auch wenn man das Lied nicht mochte oder mag. Und Hanns Rosenthal ließ alle mitgrölen, wenn er rief: "Wir sind der Meinung, das war ... SPITZE!" Und wer vergißt schon den berühmten Disco-Ruf: "Licht aus - Spot an!" oder die unglaubliche Absage der ZDF-Hitparade: "Es ist 20 Uhr 14 und 29 Sekunden, das war die ZDF-Hitparade aus dem Studio 1 der Berliner Unionfilm...". Und da verlassen sie mich, aber ich schwöre, ich habe das mal auswendig gekonnt!

Zu einem Zeitpunkt, da die Fernsehprogramme nur von 16 bis 23 Uhr liefen, war das, zu einem Zeitpunkt, als die Rundfunksendungen morgens um sechs Uhr begannen und um Mitternacht mit der Nationalhymne aufhörten, und als es noch richtige Pausenzeichen gab. Wissen Sie noch, was Pausenzeichen sind?

"Scotty, drei Mann hochbeamen", rief Captain Kirk vom "Raumschiff Enterprise", und der deutsche Sprecher von Pille war auch der deutsche Sprecher von John Koenig, einer der Hauptfiguren in "Mondbasis alpha 1", der ersten SF-Fernsehserie, die mir bewußt in Erinnerung geblieben ist.

Man trank Sunkist und Milch aus Flaschen, und die Limonadenflaschen hatten einen Schraubverschluß ohne diese grauslichen Dichtungsringe. In jeder Tafel Schokolade von Alpia gab es die Fußballbilder, und nicht nur da. Keine Plattensammlung, die nicht mit A wie ABBA angefangen hätte, und selbst Radiosender übertrugen Fußballspiele und Bundestagsdebatten noch vollständig. Man hatte Zeit. Nicht "the show...", sondern "the games must go on", war ein geflügeltes Wort. "Spiel ohne Grenzen", "Musik ist Trumpf" und "Am laufenden Band" oder "Einer Wird Gewinnen" waren die Sendungen, für die man Samstagabends zu Hause blieb. Die Straßen von San Francisco waren auch damals schon gefährlich, aber Sex und Crime übten sich im Maßhalten.

Warum singen so viele Leute, die in den Siebzigern noch so klein waren, daß sie sich das Jahr 2000 nicht vorstellen konnten, nun so ein großes Loblied auf diese Zeit, die wahrscheinlich nur in der Retrospektive so golden erscheint? Ist es vielleicht die Tatsache, daß die Zeit damals noch so langsam ablief, daß man sich im Nachhinein noch an Einzelheiten erinnern konnte? Wer weiß heute noch, wann der 350-MHz-getaktete Rechner durch den 500-MHz-getakteten abgelöst wurde? Vermutlich knapp ein halbes Jahr, nachdem der 350er auf den Markt geworfen worden war. Aber ich bin schon heute ein Dinosaurier und fühle mich irgendwie alt. Ich benutze DOS 6.22 und liebe die siebziger und frühen achtziger Jahre. Wenn man damals eine Werbung hörte, hörte man sie jahrelang. Und wenn man damals ein Produkt kaufte, hielt es länger als ein halbes Jahr. Fast unvorstellbar, nicht wahr?

Heute wechselt sich alles in schneller, größer, weiter, höher und im neuen Design sehr schnell ab. Das Design ist das Wichtigste, die Verpackung macht's. Damals - so scheint es - war selbst die Werbung noch darauf ausgelegt, den Menschen einen Fixpunkt zu bieten, indem sie sich selten veränderte. Heute sind die immer aufwendigeren Logos und Designs der Grund dafür, sich eine Werbung zu merken. Natürlich sollte man die siebziger Jahre nicht mit der Vorkriegszeit vergleichen, aber für sich genommen sind sie meiner Meinung nach das letzte Jahrzehnt, in dem der Mensch von sich aus noch das Bedürfnis nach persönlicher Kommunikation und Fixpunkten verspürte, auch ein Jahrzehnt der Kreativität, die sich mehr auf den Inhalt richtete als auf die Verpackung.

Daß der Wunsch nach der alten Erinnerung so groß geworden ist, hat für mich etwas mit der größer werdenden Haltlosigkeit zu tun, die viele Menschen empfinden, die nicht ganz in dieser Zeit groß geworden sind. Die Zeit wird beschleunigter, muß man sagen. Daß jemand im Alter sich nicht mehr mit der Zeit so recht identifizieren kann, in der er lebt, das ist verständlich und einleuchtend, zeigt den Wandel der Generationen. Daß man aber mit dreißig anfängt, sich zum "alten Eisen" zu zählen und das Gefühl hat, nicht so recht in dieser Welt zu Hause zu sein, das wiederum sollte einen nachdenklich stimmen.

© 2000, Jens Bertrams

Hier der Zeit-Artikel, der mich zu diesem Kommentar veranlasste


Eine Randbemerkung von Eckart Fuchs:
Beim Lesen der obigen Zeilen verfiel ich selbst in Nostalgie, obwohl für mich eigentlich die 60er fast noch schöner waren. Man könnte noch auf die heute üblichen Kommunikationsformen (vor allem im Netz bei Mails, Chat und Foren aller Art) hinweisen, die recht seicht und abgeflacht sind, und bei denen ein hohler Gimmick den anderen zu übertrumpfen sucht, und wo nicht etwa derjenige am erfolgreichsten ist, der Rechtschreibung und guten Stil halbwegs beherrscht (das ist "mega-out"), sondern der, der den "coolsten Schwachsinn" produziert. Und jeder setzt sich eine mehr oder weniger mißlungene Maske auf. Das sind die Gründe, warum ich z.B. eine potentielle Partnerin im Internet wohl zu allerletzt suchen werde... Auch gab man sich früher bei Bewerbungen, Anschreiben und Liebesbriefen noch richtige Mühe, heute findet man im Netz für jeden Anlaß Vorlagen "von der Stange", wie z.Z. massenhaft Gedichte zum Valentinstag. Geschickte Mimikry ist alles. Als Weiterentwicklung des altrömischen Prinzips "Panem et Circenses" hat der "Informations-Highway" eine Deformation zum "Info-Big-Mac" erfahren.

Es ist schade, wenn man mit schönen Ideen und gepflegter, fein-ironischer Ausdrucksweise (wie in den Kommentaren dieser Seiten) ohne nachzudenken nur den Ausdruck "Fossil" oder "Dinosaurier" verbindet. Vielen geht bei der heutigen hektischen Denk- und Lebensweise der Blick für das große Ganze verloren, und das ist eine Verarmung. Aber es gibt auch noch das andere, z.B. gute Literatur (gerade auch aus dem Genre des Phantastischen), die beim Aufblicken über den Tellerrand hilft. Man soll nicht zu schwarz malen. Und in der Geschichte gab es schon immer Selbstregulativmechanismen, wenn bestimmte Tendenzen eine gewisse Dimension erreichten.

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