Seit einigen Wochen erscheinen in den Nachrichten Berichte über Fusionen zwischen Medienkonzernen und Internetanbietern. Immer ist dabei von einem Ausbau des Marktes im weltweiten Computernetz die Rede und welche Möglichkeiten sich dadurch eröffnen. Doch ist das alles nur eine rosige Zukunftsperspektive auf wirtschaftlichen Profit ausgerichteter Großkonzerne oder haben wir es hier mit einer neuen Dimension des Handels und der Kommunikation zu tun, bei der der Käufer tausende von Kilometern vom Verkäufer und seiner Ware entfernt sein kann, ohne auf die ihm zustehenden Faktoren wie Besichtigung der Ware und Beschreibung der Wareneigenschaften verzichten zu müssen? Es wird langsam Zeit, sich einmal Gedanken über diese Entwicklung zu machen und dabei auf medienwissenschaftliche und wirtschaftliche Argumente zu verzichten und nur die Frage zu erörtern: Was bringt dem Standardbürger ein elektronischer Markt?
Als zu Beginn der 80er Jahre die Entwicklung der Mikrocomputer und deren Nutzung in Wissenschaft und Militär immer bedeutender wurde, beschlossen Universitäten, sowie Militäreinrichtungen, ihren Bereichen zugehörige Netzwerke zu schaffen, innerhalb derer Computer, Großrechner wie Personal Computer, durch Telefonverbindungen miteinander kommunizieren können. Dies sollte vor allem der schnelleren und breitgestreuteren Nachrichtenweitergabe und dem Ideenaustausch zu Gute kommen. Wissenschaftler aus aller Welt vermochten nun, sich mit ihren Fachkollegen geistig auszutauschen, ohne weite Reisen unternehmen zu müssen oder einen langwierigen Briefwechsel zu unterhalten. Die westlichen Militärs im Verbund der NATO waren nun im Stande, ihre Strategien zu koordinieren und Einsatzpläne aufeinander abzustimmen, sowie Befehle in vernachlässigbaren Zeiträumen an möglichst viele Empfangsstationen weiterzureichen.
Doch schon innerhalb der 80er Jahre erkannte man, daß diese Netzwerke sich auch zivil und ohne wissenschaftlichen Anspruch nutzen ließen. Unabhängig voneinander entstandene Kommunikationsnetze wurden zunächst im lockeren Verbund, dann immer dichter zusammengeknüpft, so daß bald ein weltumspannendes, wenn auch nicht durchstrukturiertes Gefüge entstand, in dem sich Computersysteme miteinander austauschen konnten. Betriebssysteme wie UNIX boten dafür eine Startplattform, auf der sich Fabrikate aller Hard- und Softwareanbieter "treffen" konnten. Wann genau der Begriff "Internet" geprägt wurde, ist mir persönlich zwar unbekannt, ich weiß jedoch, daß er 1992, als ich auf der CeBit in Hannover war, bereits zum Jargon der Computernutzer gehörte.
Durch die immer leistungsfähigeeren Rechner und immer günstigeren Anschaffungspreise für PCs und Modems, den direkten Zwischenstücken zwischen Rechner und Telefonleitung, sowie der Entwicklung digitaler Fernübertragungsnetze wie ISDN u. ä. stieg die Nachfrage und das Interesse bei Normalbürgern, die weder wissenschaftlich noch militärisch noch als Verwalter großer Rechenzentren mit dem Netz zu tun hatten, sich in das neue Kommunikationsmedium einzuarbeiten und die dort dargebotenen Möglichkeiten zu nutzen, zunächst als schnelle Postzustellung (E-Mail), dann als Möglichkeit, an Informationen zu kommen (Worldwide Web). Von da an ist der Begriff "Internet" ebenso in den allgemeinen Wortschatz eingegangen, wie "Telefon", "Fernseher" oder "Auto". Aus dem Kommunikationsbedarf spezialisierter Interessengruppen war ein neues Massenmedium geworden, dessen Möglichkeiten heute noch lange nicht völlig ausgereizt sind. Dies führte selbstverständlich dazu, daß auch Handelsorganisationen und einzelne Anbieter begannen, die neue Kommunikationsmöglichkeit zu nutzen.
Wenn zum Beispiel ich heute den Rechner hochfahre, um daran zu arbeiten, komme ich häufig genug darauf, mir Informationen aus dem Internet zu holen. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, daß es im Netz nichts gibt, was es nicht gibt. Freizeit, Arbeit und Informationsbereiche, Postzustellungen weltweit in wenigen Sekunden ob an einen oder hunderte Empfänger gleichzeitig, ist keine Neuheit mehr. Und so wie ich empfindet es wohl jeder, der sich einen Internetzugang leisten kann. Und nun kommt neben der Informationsbeschaffung noch etwas anderes hinzu: Man kann jetzt auch im Netz einkaufen!
Früher waren es nur Versandhäuser, die Bestellungen nun auch per Internet annehmen konnten. Heute ist es wohl auch schon möglich, Produkte anzusehen und gleich zu kaufen, die nicht von alteingesessenen Versandhändlern vertrieben werden. Ob von der Pizzalieferung nach Haus bis zur Auslieferung einer digitalen Zeitung, die auf dem Rechner in eine Druckdatei umgewandelt und wahlweise auf Papier ausgedruckt oder auf dem Schirm betrachtet werden kann, reicht die Palette sehr weit. Und jetzt, durch die Fusionen von Firmen wie dem Medienunternehmen WARNER BROS. mit dem Internetanbieter AOL, sowie deren Fusion mit dem Medienunternehmen EMI in Großbritannien, besteht eine weitere Möglichkeit Waren im Internet zu vertreiben. Man kann Musik- und Videoclips direkt als Datei zur Verfügung stellen. Über 2500 bekannte Künstler(gruppen) stehen dem neuen Großunternehmen zur Verfügung. Mit dem akustischen Datenformat MP3 können Musikstücke in CD-Qualität direkt vom Anbieter zum Käufer transferiert werden, der sie dann auf seinem Rechner oder einem MP3-Abspielgerät hören kann. Ähnliches wird sich wohl auch bei Viedeoaufzeichnungen bewerkstelligen lassen. Ob wir bald keine CDs oder Videocassetten mehr anschaffen werden, ist wohl eher eine Frage der Attraktivität und Qualität als eine Frage der eigenen Überzeugung. Denn durch die CD-Brenntechnik kann sich wohl bald jeder seine individuellen Musikkonserven zusammenstellen, indem er oder sie die entsprechenden Dateien auf CD brennen läßt.
Ich habe eine zugegebenermaßen starke Phantasie, wenn es um die Vorstellung zukünftiger Möglichkeiten geht. Daher kann ich mir sehr gut vorstellen, daß jeder Mann und jede Frau in Zukunft mit einem tragbaren Computer herumlaufen kann und im Internet Dinge einkauft, wie zum Beispiel Musik oder Videos, die als bezahlbare Dateien bereitliegen und abgerufen werden können. Ich stelle mir sogar vor, daß der gute alte Walkman durch einen Datenabnehmer ersetzt wird, der über eine Satellitenverbindung Musikclips abruft und dem Besitzer vorspielt, was dieser sich auf einem Menu bestellt hat, als ganz individuelles Radioprogramm, mit ganz individuellen Rundfunkgebühren. Da die mit dem boomenden Internet ebenfalls stark zunehmenden Mobiltelefonsysteme mittlerweile auch auf Zugriffe auf das Internet vorbereitet wurden, kann jemand auch alle Arten der Kommunikation, ob in Bild, Wort oder Schrift, von jedem Punkt der Welt aus abwickeln. Doch wozu das ganze?
Werden wir dadurch, daß wir bald schon neue Medien zur Verfügung haben, mehr soziale Kontakte pflegen? Anscheinend ja. Aber nur anscheinend. Denn in Wirklichkeit wird das direkte Gespräch von Mensch zu Mensch mehr und mehr in den Hintergrund treten, falls die Flut der neuen Möglichkeiten nicht langsam überschaubar gemacht und die Chancen und Risiken jedem Interessierten vermittelt werden. Was nützt es dem Schulkind, daß vor einem Rechner sitzt, daß es auf alle Informationen der Welt zugreifen kann oder sich mit seinen Mitschülern und Gleichaltrigen in aller Welt "unterhalten" kann, wenn es dadurch verlernt, mit Kindern zu spielen, ja eigene Phantasien und Ideen zu testen. Und was in der Schule anfängt, könnte sich für jeden zu einer echten sozialen Gratwanderung entwickeln, auch wenn die meisten davon nichts mitbekommen werden, weil es zu verlockend ist, alles zu erledigen, vom Hausputz bis zum Verwandtenbesuch oder Großeinkauf, ohne einen Schritt vor die Tür zu treten. Das, was Psychologen und Psychiater als Agoraphobie bezeichnen, die Angst vor der Außenwelt, könnte hier zu einer Verkehrung werden. Jeder kann mit jedem Kontakt aufnehmen, aber bleibt dennoch isoliert, zunächst aus Bequemlichkeit, später vielleicht aus Angst, Fehler zu begehen, die man dann nicht korrigieren kann, solange die elektronische Schnittstelle zwischen den Kontaktpartnern fehlt. Außerdem kommt noch etwas dazu:
Viele Informationen führen zu einer Verwirrung, welche denn die richtige Information für den entsprechenden Anlaß ist. Und es besteht die Gefahr, daß die an und für sich gesellschaftsfördernde Meinungsfreiheit dazu mutieren kann, daß bestimmte Informationsanbieter gezielte Informationen ausstreuen, um Menschen zu manipulieren. Das, was man Fernsehen und Zeitungen vorwirft, daß sie die Gefahr der Massenmanipulation bergen, trifft wohl auch und besonders für das Internet zu. Denn durch den oben erwähnten Faktor, persönliche Daten weiterreichen zu müssen, um käufliche Dinge zu erwerben, besteht auch die Möglichkeit der Händler, Daten untereinander auszutauschen und gezielte Interessenforschung zu betreiben. Das was Werbetreibende immer mit dem Restrisiko eines statistischen Fehlers angehen, den Wunsch des potentiellen Kunden zu erkennen, könnte hier mit einer nahezu fehlerlosen Exaktheit erreicht werden. Hinzu kommt noch die unbedingte Erkenntnis, daß das Internet wie die ganze Welt beschaffen ist, mit Licht- und Schattenseiten, förderlichen und verbrecherischen Aspekten. Man kann ebenso leicht an wertvolle Hilfen zur Alltagsbewältigung kommen, wie sich von menschenfeindlichem Gedankengut in Versuchung führen lassen oder Zugang zu kriminellen Angeboten wie Menschenhandel und dergleichen erhalten.
Durch die Fusion von großen Medienunternehmern mit Internetanbietern treten wir in eine neue Phase der fortlaufenden Entwicklung im weltweiten Datennetz ein. Handel und Information verschmelzen immer mehr. Und auch die Diskussion um eine Änderung der Ladenöffnungszeiten oder der Erweiterung von Servicediensten trägt dazu bei, daß sich einige bis viele fragen, ob das Internet nicht *die* brauchbare Alternative zum Einkaufsbummel ist. Hierzu sage ich nur:
Das Internet ist schon eine wichtige und nützliche Einrichtung, um sich weltweit zu betätigen. Doch ich würde mich nicht dazu hinreißen lassen wollen, auf soziale Kontakte zu verzichten. Denn irgendwie wäre eine Welt, in der Computer und Roboter den Menschen umsorgen und behüten, wie sie sich Science-Fiction-Autoren schon vor Jahrzehnten ausgemalt haben, keine Welt mehr für das neugierige, abenteuerlustige und risikofreudige Säugetier namens Mensch. Insofern belächel ich diejenigen, die nicht mehr ohne Mobiltelefon sein können oder meinen, alles im Internet erledigen zu können. Doch ich hoffe, daß ich nicht eines Tages ein Individualist bin, der zwar die neue Welt kennt und beschreitet, aber nicht so recht in ihr leben kann. Und jeder, der oder die früher mit anderen Kindern draußen oder drinnen gespielt hat und sich abenteuerliche Geschichten und Spiele ausgedacht hat, wird mir darin zustimmen, daß Menschen, die sich direkt treffen, ohne Computer auskommen. Dies gilt auch für den Einkauf. Mag man über Service und Ladenöffnungszeiten denken, was man will. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand auf Dauer ohne das direkte Gespräch mit einem Verkäufer über die Ware auskommt.
Und noch ein Wort zur eingangs gestellten Frage, ob das Geschäft im Internet, das E-Business, ein Markt der unbegrenzten Möglichkeiten ist? Was tote Objekte, Informationsträger und Bild- oder Tonkonserven angeht, so kann diese Frage mit einem sicheren Ja beantwortet werden. Doch wenn es um direkte Dienstleistungen geht, wie die Konsultation eines Arztes, Anwaltes oder Imageberaters, ist doch die unmittelbare Kommunikation immer noch effektiver, selbst wenn es schon oOnline-Anwälte, Internet-Internisten oder Seiten mit Formularen zur Gestaltung der eigenen Darstellungsweise gibt.
© 2000, Thorsten Oberbossel