Die Wahlsendung

Am 22. September 2002 fanden die Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag statt. Der Zufall wollte es, daß an diesem Tag auch die fünfte Sendung stattfand, an der ich als Comoderator teilnahm.

Am 4. September lud ich einige Freunde von mir zu einer Wahlparty für den 22. ein. Das mache ich per Email. Und während ich da saß, kam mir die Idee, eine Sondersendung zur Bundestagswahl zu machen. Wenn ich schon einmal im Radio war, so dachte ich mir, so konnte ich das Medium neben der lockeren Unterhaltung auch für etwas anderes nutzen, für gute Information nämlich, und auch für eine gute Diskussion. Mein Gedankengang war noch etwas ungeordnet. Ich dachte darüber nach, jemanden ins Studio einzuladen. Aber zuerst mußte ich einmal mit Metin Gemril reden, der ja die Hauptmoderation und die Chefredaktion inne hat. Mein Anruf ergab eine begeisterte Zustimmung. Metin hatte immer gesagt, daß Beiträge, wenn sie denn da sind, einen gewissen Vorrang vor der lockeren Unterhaltung haben. Also machte ich mich ans Werk. Ich fragte ihn, ob er eine spannende Idee hätte, wen man einladen könne. Er schlug einen blinden und gehbehinderten marburger Stadtverordneten vor, oder den Geschäftsführer oder Bezirksvorsitzenden eines bekannten Blindenverbandes. Irgendetwas in mir wehrte sich dagegen. Alles interessante Leute, sicherlich, aber ich wollte einen echten Knüller. Ich fand ihn in Ottmar Miles-Paul, einem Publizisten aus Kassel, mit dem ich seit einigen Jahren in der Behindertenpolitik hin und wieder zusammenarbeite. Er ist die Gallionsfigur der selbstbewußten und modernen Behindertenselbsthilfe. Allerdings ist auch er Stadtverordneter, und zwar in Kassel, und ich mußte schon bezweifeln, daß er ausgerechnet am Wahltag zeit haben würde. Ich rief ihn an, konnte ihn aber vorerst nicht erreichen. Ottmar Miles-Paul ist oft unterwegs. Stattdessen entstand in meinem Hirn eine weitere Idee. Warum sollte man nicht den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung interviewen? Ich hatte den Eindruck gewonnen, daß in Marburg zwar viele Blinde lebten, daß sie aber wenig über die allgemeine Behindertenpolitik wußten. Hier wollte ich gern Abhilfe schaffen.

Am Donnerstagmorgen rief ich also beim Behindertenbeauftragten an, konnte aber außer der Telefonistin niemanden erreichen. Ich wurde auf den Mittag vertröstet, sollte mich dann bei der Sekretärin des Behindertenbeauftragten melden. Den ganzen Tag über fieberte ich dem Anruf entgegen. Ich hatte schon einige Radiointerviews hinter mir, aber ich war immer der Interviewte gewesen. Jetzt sollte ich der Interviewer sein. Was sollte ich fragen? Wie sollte man das technisch handhaben? Wie sollten wir eine Aufzeichnung hinbekommen, falls Karl Hermann Haack nicht bereit oder in der Lage war, am Wahltag live zur Verfügung zu stehen? Selten war ich so aufgeregt gewesen, wie an diesem Mittag, als ich erneut im Büro des Beauftragten anrief. Ich fragte die Sekretärin, ob Herr Haack am Wahlsonntag für ein Liveinterview zur Verfügung stehen würde, aber sie konnte und wollte dazu nichts sagen. Ich solle mich statt dessen am folgenden Morgen an den Pressesprecher des Beauftragten wenden. ich schwor mir, mich bis dahin gründlich vorzubereiten. Die Anspannung ließ nicht nach, wurde sogar noch größer. Jetzt mußte ich bis zum nächsten Tag warten, bis sich eine Entscheidung anbahnte.

Wieder rief ich Metin an und fragte, wie man das Interview aufzeichnen könnte. Er war etwas ratlos. Doch ich erinnerte mich, daß unser Nachrichtenmann, Stefan Müller, schon O-Töne in den Nachrichtenticker von Frequenzfieber eingebaut hatte. Also fragte ich ihn, und STefan berichtete, daß er das auf eine sehr primitive Weise getan habe, mit Mikrofon, Telefon, Lautsprecher und Mischpult. Ich fragte ihn, ob man notfalls das Interview auf diese Weise aufnehmen könne, und er stimmte zögernd zu. Aber auch Metin hatte eine Idee. "Wir können das Interview gleich im Studio aufnehmen, vorausgesetzt, wir können es in der Zeit führen, wo bei Radio Unerhört nur das Endlosband läuft und wir ins Studio können." Da Metin ein arbeitender Mensch ist, blieb uns nur sein freier Tag, der Mittwoch. Got sei dank ist das auch der Tag, an dem Radio Unerhört lange das Endlosband laufen läßt und das Studio infolgedessen frei ist.

Freitagsmorgens hatte ich eine Email von Ottmar Miles-Paul. Er bestätigte, daß er große Lust habe, zur Sendung nach Marburg zu kommen. Wir verabredeten, daß er Am 22. September morgens um halb Zahn ungefähr in Marburg eintreffen und von mir abgeholt werden würde. Wieder rief ich beim Behindertenbeauftragten an, und der Pressesprecher sagte zu, daß ein solches Interview möglich sei, im prinzip, aber er müsse noch mit dem Behindertenbeauftragten selbst darüber sprechen. Ich solle mich am Dienstag, den 10. September noch einmal bei ihm melden, und wenn alles gut gehe, könnten wir schon am Mittwoch die Aufzeichnung machen. Als ich dies meinen Kollegen mitteilte, waren wir alle recht begeistert, und endlich konnten wir an die eigentliche Planung des Events gehen.

Am 7. September verbrachte ich einen halben Tag bei Metin und produzierte mit ihm einen sogenannten Trayler, einen Werbe- und Eingangsspott für die Wahlsendung. Den wollten wir jeweils zweimal während der zwei verbleibenden Sendungen spielen, um die Hörer darauf vorzubereiten, was sie am 22. September bei Frequenzfieber erwartete. Dann begann ich damit, einen Sendeplan zu schreiben. Ich fragte meine Freundin Bianca, ob sie bereit wäre, morgens früh wählen zu gehen, um die für Blinde angefertigte Wahlschablone zu testen, damit sie uns dann in der Sendung davon berichten könnte. Sie stimmte zu. So entwarf ich erstmals einen genauen Sendeplan. Zwar konnten wir keine genauen Uhrzeiten hineinschreiben, aber wir legten erstmals haargenau fest, was als nächstes in der Sendung geschah. Zwar wollten wir im Notfall auch flexibel bleiben, aber eine Richtlinie sollte jeder von uns in der Hand haben. Ich spürte, daß ich erstmals in meinem Leben für eine Rundfunksendung die Hauptverantwortung trug. Das machte mich stolz und nervös zugleich. Nach der Sendung vom 8. September begann ich damit, einen Fragenkatalog für das Interview mit Karl Hermann Haack zu entwerfen. Auch eine Gute Anmoderation mußte her. Und außerdem sollte sich das ganze so anhören, als werde es live gesendet. Trotz der Komplexität des Themas durfte das Interview eine viertel Stunde nicht überschreiten, das war meine mir selbst gesetzte Höchstgrenze, um die Sendung nach wie vor abwechslungsreich und interessant zu machen. Ich brütete also über den Fragen und erwartete die Bestätigung des Interviews durch den Pressesprecher des Beauftragten.

Am 10. September klopfte ich dieses Interview endgültig fest. Wir einigten uns auf den 11. September, 13 uhr. Ich gab dem Pressesprecher die Telefonnummer des Studios und sagte ihm, daß wir ab 12 Uhr dort zu erreichen seien. Immer stärker wurde mein Lampenfieber. Ich hoffte, daß ich gute Fragen ausgesucht hatte, und ich hoffte, daß ich das Interview sicher und souverän führen konnte. Es war und blieb mein erstes.

Am Mittag des 11. September waren Metin und ich um kurz vor 12 Uhr im Studio. Mit dem Programkoordinator von Radio Unerhört klopften wir noch einmal ab, daß an diesem Tag keine andere Unerhört-Sendung den Termin von Frequenzfieber beanspruchte. Es kommt ab und an vor, daß zu besonderen Anlässen eine bestimmte Redaktion sich einen ganzen Tag reservieren läßt, und alle anderen Sendungen fallen dann aus. Wir hatten befürchtet, daß die Polit-Redaktion von Radio Unerhört sich des Sendeplatzes am Wahltag bemächtigt hatte, aber dem war gott sei dank nicht so. Gut gelaunt warteten wir im Studio auf den Anruf aus Berlin, und als er gegen viertel nach zwölf kam, bewshrheiteten sich einige meiner Befürchtungen. Der Beauftragte stand im Stau auf dem Weg nach Berlin. Er würde nicht pünktlich da sein für das Interview. Wir hatten aber längstenfalls bis 15 Uhr zeit. Am frühen nächsten morgen wollte Metin für einige Tage nach Paris fahren, und er hatte noch einiges vorzubereiten. Ein leichtes Bangen ergriff mich. Ich versuchte mir zu überlegen, was wir machen sollten, wenn das interview ausfiel. Wie sollten wir so schnell einen anderen, gleich kompetenten Gesprächspartner finden, der uns etwas über die Behindertenpolitik der letzten Jahre, und über die Chancen für die Zukunft sagen konnte?

Unsere Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Um kurz vor zwei dan der erlösende Anruf: Der Beauftragte war eingetroffen und bereit. Als ich das interview einmal begonnen hatte, nach ein paar einleitenden Worten, die ich mit Herrn Haack wechselte, damit sich zwischen uns eine Atmosphäre entwickelte, spürte ich, wie die Spannung von mir abfiel. Am anderen Ende der Leitung war ein erfahrener Gesprächspartner, der vielleicht nicht alles sofort sagen wollte, was ich ihn fragte, der auch mal ins Plaudern geriet, der es mir aber nicht schwer machte, meinen Gesprächsfaden beizubehalten. Bewußt hatte ich mir nur die Anfänge jedes Themenkomplexes notiert. Es mußte möglich sein, nachzuhaken, in ein Thema tiefer einzutauchen ud ein Gefühl für die Bereitschaft des Andern zu entwickeln, sich auf bestimmte Fragen einzulassen.

Erst im Nachhinein wurde mir klar, unter welcher Anspannung ich gestanden hatte. Metin nahm das Band mit, und ich hütete mich die nächste Woche davor, mir die Aufnahme anzuhören. Stattdessen schrieb ich auf, was ich mit unserem Studiogast Ottmar Miles-Paul besprechen wollte, machte mir Gedanken über die Musikauswahl und sprach mit dem Geschäftsführer des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS), Andreas Bethke, ob er zu einem Interview bereit sei für die Sendung. Er stimmte zu. Damit war die Planung für die Sondersendung in ihr entscheidendes Stadium getreten. Die festen Rubriken der normalen Sendungen - Hörspiel- und Hörfilmtipps, sowie der übersetzte Popsong - fielen an diesem Tag aus. Nur die Hörerhitparade wurde in gewohnter Weise durchgeführt. Dazwischen sollte viel Zeit bleiben zum Informationsgespräch mit Hörern, den Interviews und den Fragen an Ottmar Miles-Paul.

Drei Tage vor der entscheidenden Sendung teilte mir Metin mit, daß er aus dem Interview mit Herrn Haack die ä's und a's rausgeschnitten hätte. Auf 10 Minuten und 41 Sekunden käme das Werk. Ich kam zu ihm, wir hörten uns das ganze noch einmal an, und ich sprach den Eingangstext noch einmal, weil der mir aufgrund meiner Nervosität nicht so gut gelungen war. Außerdem spielten wir einen neuen Trayler für den Anfang der Sendung ein. Jetzt konnte der große Tag kommen, alles wichtige war vorbereitet.

Erst einen Tag vor der Sendung kam ich dazu, mir den Zeitplan für die Gesamtveranstaltung noch einmal genau anzusehen. Wir hatten sehr knapp kalkuliert, was ich überhaupt nich mag an Tagen, wo es darauf ankommt. Ich beschloß, mit Ottmar zu reden, ob er nicht eine Stunde früher am marburger Bahnhof sein könnte. Seine Ankunft war für halb zehn, oder fünf Minuten später geplant. Das häte bedeutet, daß wir gegen zehn minuen vor zehn im Studio gewesen wären, erheblich zu spät für die üblichen Vorbereitungen. Otmar ließ sich dankenswerterweise auf fünf Minuten nach halb neun festnageln.

Ich stand also an diesem Wahlmorgen im Regen und wartete auf ihn, den "obersten Behinderten Deutschlands", wie ich ihn immer scherzhaft nannte. Meine Uhr zeigte zwanzig Minuten vor neun, als im Bahnzhof bekanntgegeben wurde, daß der Zug aus Kassel rund zwanzig Minuten verspätung habe. Ich dankte innerlich für die Eingebung, Ottmar um die Anreise eine Stunde früher gebeten zu haben. Es war drei minuten vor neun, als er eintraf. Gemeinsam gingen wir zum Bahnhofsbäcker, holten die obligatorischen Teilchen und Croissants, und dan trafen wir draußen vor dem Bahnhof mit Metin zusammen und machten uns auf den Weg zum Studio, wo Stefan zu uns stieß. Um kurz vor halb zehn waren wir da, und das übliche Wuseln begann. Kopfhörer und Mikrofone wurden eingesteckt, Videobänder und DAD-Kassetten eingelegt, die ersten Jingles und Lieder vorbereitet, und die ersten Teilchen und Kaffee verteilt. Ottmar und ich hatten in der Sprecherkabine platz genommen, Stefan und Metin im Freisprechraum. Sie konnte beginnen, die erste Rundfunksendung unter meiner Federführung. Ich möchte nicht verschweigen, daß ich stolz war und bin auf diese Sendung. Natürlich war ich nervös und hatte Lampenfieber, aber alles notwendige war getan, ändern konnte man ohnehin nichts mehr. Und Pannen konnte es imer geben, warum sollte ich mir jetzt darüber Sorgen machen?

Als die Sendung anfing, wurde ich ganz ruhig. Aufgeregt war ich nur deshalb, weil ich natürlich wollte, daß Ottmar Miles-Paul, der in der Szene ein guter Multiplikator ist, unsere Sendung weiterempfahl. Ich wollte meine Sache so gut wie möglich machen. Während der Lieder sprach ich mit Metin im Freisprechraum und Ottmar neben mir die nächsten Schritte ab. Bis auf den Anfang hielt sich Metin aus der normalen Moderation heraus. Wir verabredeten Stichwörter für die Musik, oder ich übergab ihm das Wort zur Ansage des nächsten Titels in der Hörerhitparade. Alles andere oblag mir. Wiedereinmal zeigte sich, was für ein gutes Team wir sind. Ottmar Miles-Paul war begeistert, zumal ihm unsere lockere Art gefiel, Radio zu machen. Stefan Müller hatte einen Beitrag über Wahlen und die Wahlschablone produziert, der am Anfang gesendet wurde. Dann, nach dem nächsten Lied, rief Bianca an underzählte, wie sie mit Wahlschablone gewählt hatte. Ottmar zeigte sich von der Organisation der Sendung beeindruckt. Wir konnten dann ein wenig diskutieren, spielten nach etwas mehr als einer halben Stunde das Interview mit dem Behindertenbeauftragten ein, und dann begann, nur vom Nachrichtenticker und der Hörerhitparade unterbrochen, die Diskussion mit den Hörern. Alles ging von selbst. Sechs Hörer beteiligten sich an der Sendung, und ein kleines Interview führten wir noch mit Andreas Bethke vom DVBS über die Anzahl der in Hessen genutzten Wahlschablonen, die es bei dieser Wahl erstmals gab.

Die zwei Stunden vergingen wie im Flug. Mit so viel Hörerbeteiligung, guten Fragen und interessanten Debatten hatte ich nicht gerechnet. Es ging um den Arbeitsmarkt, das Gleichstellungsgesetz, die Verfügbarkeit von Informationen der Bundesbehörden für Blinde und Sehbehinderte, aber auch um den Unterschied zwischen Rot-Grün und Gelb-Schwarz inder Behindertenpolitik. Die Geschichte der Wahlschablonen wurde ebenfalls erzählt, wie es auch Kritik und Vorschläge gab, was man noch verbessern könnte. Die Zeit verging wie im Fluge, und plötzlich war die Sendung zuende. Ottmar mußte sofort zum Bahnhof, also sprang ich mit ihm in ein Taxi und fragte ihn auf dem Weg, wie es ihm gefallen habe. Er war begeistert und meinte, daß man diese Sendung doch gut auch als Verbreitungsmedium von Behindertennews nutzen könne. Er meinte, er werde bestimmt mal wieder vorbeikommen. Ich freute mich über das Lob und nahm mir vor, zu bestimten Anlässen wieder Sondersendungen zu veranstalten.

© 2002, Jens Bertrams


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